"Ach, Obrigkeit und … Stauffenbach"

Vor 57 Jahren: Gedenkstunde der Akademie zum 20. Juli 1944

April 1960



G. Jung


Beschämende Erfahrungen mit grober Unkenntnis des Nationalsozialismus hatten Akademiedirektor Felix Messerschmid im Jahre 1960 bewogen, eine gemeinsame Gedenkstunde mit Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel zum 20. Juli 1944 im Alten Münchner Rathaus zu veranstalten. Sie bildete den Auftakt einer insgesamt 10-jährigen Veranstaltungstradition. Bereits ein Jahr zuvor hatte Wolfgang Schier, Landsgerichtsdirektor aus München, bei einer Gedenkfeier der Akademie zum 20. Juli über „Das Recht zum Widerstand" gesprochen.

Oft berichtete Messerschmid von den niederschmetternden Antworten angehender Stipendiaten im Rahmen von Auswahlgesprächen für die Deutsche Studienstiftung. Auf seine Frage, was es mit dem 20. Juli 1944 auf sich gehabt habe, hatte ihm beispielsweise ein Student geantwortet: „Ach, Obrigkeit und so…“, und auf weiteres Nachbohren hin schließlich den Namen „Stauffenbach“ genannt. Für Messerschmid Anlass zu der besorgten Frage, was denn aus jungen Menschen werden solle, die eine derartige historisch-politische Ahnungslosigkeit erkennen lassen. Und auf das Ganze bezogen – immerhin in der angespannten Situation der späten 1950er Jahre (Kalter Krieg, bipolare Welt, Wettstreit der Ideologien und Systeme, die Kuba-Krise am Horizont): „Können solche Menschen überhaupt noch verstehen, worum es heute geht, können sie verstehen, dass in der latenten Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Totalitarismus der Einsatz für die Freiheit notfalls den Einsatz des Lebens erfordert?" Auch stieß er sich an der Art des Umgangs mit dem Nationalsozialismus und der unzureichenden „Vergangenheitsbewältigung".

Politischer Analphabetismus

Mit aller Kraft gelte es, so Messerschmids Credo, dem „politischen Analphabetismus“ zu begegnen und mittels verstärkter politisch-bildnerischer Anstrengungen auf ein gefestigtes demokratisches Bewusstsein der Bürger wie den Verantwortungswillen des Einzelnen hinzuwirken.

In seiner Einleitung zur Gedenkveranstaltung am 19. Juli 1960 wies Hans-Jochen Vogel auf die Zweckmäßigkeit eines Kontakts mit der Tutzinger Akademie hin und betonte, dass er „die Stadt nicht nur als Steuereinnehmer, Straßenbauer und Stromlieferant, sondern als eine bürgerliche, geistige und damit auch kulturelle Gemeinschaft" verstanden wissen wolle.

Guardini über Freiheit

Eingerahmt durch Lesungen schriftlicher Äußerungen der Männer des 20. Juli sprach der Münchner Religionsphilosoph und Gründungskurator der Akademie Romano Guardini über die „Freiheit“. Guardinis Ausführungen trugen einen eher pessimistischen Grundtenor: Seiner Einschätzung nach stand nämlich die Freiheit bei seinen Zeitgenossen nicht sehr hoch im Kurs.

„Es besteht dringender Anlass zum Zweifel, ob der heutige Mensch denn wirklich frei sein wolle. Ob er unter Freiheit mehr verstehe, als die Möglichkeit, ungehindert seinen Geschäften nachzugehen und sein Vergnügen zu haben."

Nicht die Diktatoren, nicht die totalitären Systeme seien es, die heute menschliche Freiheit angreifen und bedrohen; die maßgebliche Gefährdung liege im Innern, und äußere sich sowohl in einem Erlahmen des Willens, frei zu sein, wie auch in einem Verfall der Werte, zu deren Verwirklichung Freiheit unverzichtbar ist. Guardini mahnte, wenn politische Apathie und Trägheit oder rücksichtsloser Individualismus und Egoismus die Oberhand gewännen, geriete eine Freiheit, die innerlich bereits aufgegeben wurde, in große Gefahr auch de facto beseitigt zu werden.

Begründung einer Tradition

Auch in den Folgejahren wurde mit Gedenkfeiern an den 20. Juli erinnert. 1961 sprach Waldemar Besson, Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, zum Thema „Verräter oder Patrioten?“, im Jahre 1962 Senator Ludwig Linsert und Hans Fritzsche. Fritzsche war persönlicher Referent des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier; der Mitglied des Kreisauer Kreises war und am 20. Juli 1944 verhaftet wurde. Linsert und Fritzsche referierten zum Thema „Geist der Freiheit – Ungeist der Gewalt“. Mit deutlich erweitertem Veranstalterkreis (Stadt München, Ludwig-Maximilians-Universität, Technische Hochschule, Standort-Kommandantur München, Bayerischer Jugendring) fand die Gedenkveranstaltung von 1965 im Herkulessaal der Münchner Residenz statt.

Die Feier stand unter dem Thema „Widerstand und Résistance. Erbe und Auftrag an Europa.“ Die Gedenkansprachen wurden gehalten von Karl-Dietrich Erdmann und Félix Lusset (Paris). Zur 25. Wiederkehr des 20. Juli 1944 wurde die inzwischen zehnjährige Tradition einer Abendveranstaltung in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München fortgeführt. Es sprachen Brigadegeneral Achim Oster (Rom), der Sohn des von den Nazis ermordeten Verschwörers Hans Oster, und der Historiker Karl Dietrich Bracher (Bonn).

Steffen H. Elsner


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