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Was lernen wir aus dem Fall Relotius?

Tagung zu den Täuschungsfällen im Journalismus

Die Fälschungen des Spiegel-Reporters Claas Relotius haben den Journalismus erschüttert. Auch bei anderen Medien wurden im vergangenen Jahr Täuschungsfälle bekannt. Was die Medien daraus lernen müssen, haben wir mit dem Netzwerk Recherche in der Tagung "Jetzt mal ehrlich!" diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 05.12.2019

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Programm: Tutzinger Medien-Dialog: Jetzt mal ehrlich!

Netzwerk Recherche

Tutzinger Medien-Dialog: Jetzt mal ehrlich!

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond,", "eine Frau mit schulterlangem Haar und Perlenohrringen", "sie verriegelt die Tür, dreht den Schlüssel dreimal um", sie "plant, nicht länger als 48 Stunden unterwegs zu sein, um das Böse aus der Welt zu schaffen": Die preisgekrönten Geschichten des ehemaligen Spiegel-Reporters Claas Relotius sind Szenen wie im Film. Zu schön, um wahr zu sein oder schlicht "Präsenzkitsch", wie Dietrich Leder von der Kunsthochschule für Medien sagt. Lange Zeit hat das niemand bemerkt - oder wollte es niemand bemerken. "Der treue Claas gab uns das, was wir wollten", schreibt Juan Moreno in seinem Buch "Tausend Zeilen Lüge". In der Zwischenzeit wurden auch weitere Täuschungsfälle bei anderen Medien publik - wenn auch nicht in der Tragweite des Falls Relotius. Was muss der Journalismus daraus lernen? Gemeinsam mit dem Netzwerk Recherche haben wir diese Frage in der Tagung "Jetzt mal ehrlich!" gestellt.

Recherche statt These

Medienjournalist Stefan Niggemeier fordert eine neue Kultur im Journalismus: Genauigkeit statt Schönheit, Transparenz statt Perfektion und Widersprüchlichkeit statt Eindeutigkeit. "Ich glaube, dass das Publikum es zu schätzen weiß, wenn Dinge komplizierter aber wahrheitsgemäßer werden." In der Tagung wurde mehrfach der US-Podcast "Serial" als Vorbild genannt, weil die Autorin regelmäßig zugibt, dass sie möglicherweise von falschen Annahmen ausgegangen ist und ihre Recherche anpasst. Die Recherche in den Mittelpunkt zu stellen, empfiehlt auch Katrin Langhans vom SZ-Magazin. "Ich habe nicht sofort eine These. Das ist harte Arbeit." Das gleiche gelte für den Protagonisten. "Der kommt mit der Recherche. Man stößt auf Menschen, die etwas erzählen können", sagt Langhans.

Mehr Raum für Protagonisten

Denen möchte Langhans gerne mehr Raum geben, zum Beispiel in Form von Oral History, also Texte, in denen nur die Protagonisten zu Wort kommen und der Autor sich mit Kommentaren zurückhält. "Wir müssen in Zukunft über kreativere Formen nachdenken", sagt Langhans. Autor und Filmemacher Stephan Lamby denkt dabei auch an streaming-taugliche Formate wie kurze Dokus für YouTube. Die Plattform zwinge Redaktionen außerdem, genauer zu arbeiten. "Auf YouTube kann jeder stoppen, zurückspulen und rausfinden, dass etwas nicht stimmt", sagt Britta Windhoff, Redaktionsleiterin von "Menschen hautnah". Das fange schon bei der Jahreszeit an. Auch in einer Folge des WDR-Formats gab es Ungereimtheiten.

Fälle in vielen Redaktionen

Stefan Weigel wundert das nicht. "Ich war überrascht, wie viele Fälle es gibt", sagt der Spiegel-Journalist. Seit er der Aufklärungskommission zum Fall Relotius angehört, berichten ihm auch Journalisten anderer Medien von Kollegen, die unsauber arbeiten. "Ich höre dann immer: 'Ich kann doch keinen Kollegen anschwärzen.' Dabei suchen wir Journalisten ständig Leute, die ihre Kollegen anschwärzen, um Missstände aufzudecken, zum Beispiel im Krankenhaus oder beim SEK", sagt Weigel. Beim Spiegel diskutieren inzwischen mehrere Arbeitsgruppen über Regeln. Weigel betont aber: "'Sagen, was ist' muss reichen." Es gehe um den Prozess, weniger um das Ergebnis, erklärt seine Kollegin Susanne Amann. Dennoch erwartet sie am Ende 75 Seiten - ein "kleines Buch". "Hardcore-Fälscher" werde man damit nicht beeindrucken, glaubt Weigel. Ihm geht es um den "Mittelbau", Kollegen, die mal "etwas rund machen", wie Medienjournalist Niggemeier es formuliert.

US-Journalismus als Vorbild?

Ein Vorbild könnte der US-amerikanischen Journalismus sein. "Das deutsche Erzählwesen wäre dort nicht möglich", ist Autor Konstantin Richter überzeugt. Dort wird gelehrt, nur zu beschreiben, was man sieht. Die Gedankenwelt der Protagonisten ist für den Journalisten tabu. "Der allwissende Erzähler ist tot", sagt Lederer von der Kunsthochschule für Medien. Für den Erzähljournalismus gilt das nicht unbedingt. "Aber wir müssen Formulierungen finden, um zu zeigen 'das hat mir der so erzählt, ob das stimmt, kann ich nicht prüfen'", sagt die Radiojournalistin Sandra Müller.

"Dem Zweifel Raum geben": Ethik in der Ausbildung

"Unsicherheit über die Ethik des Schreibens habe ich noch immer", sagt Gianna Niewel von der Süddeutschen Zeitung. Sie wünscht sich, dass künftig in der Ausbildung viel ausführlicher über Ethik gesprochen wird. Nach dem Relotius-Fall gibt die Deutsche Journalistenschule Medienrecht mehr Platz im Stundenplan. Leiterin Henriette Löwisch ist jedoch überzeugt, dass ethische Themen vor allem in der Praxis geübt werden müssen. Sie ist ein Fan der Transparenzkästen, in denen der Autor dem Publikum erklärt, wie eine Geschichte zustande kam. "Dafür braucht man kein Fach", sagt Löwisch. Auch am Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses diskutieren Dozenten und Schüler konkrete Fälle, die die jungen Journalisten bei Praktika oder Übungsreportagen erleben. "Ethik mit Leben füllen", nennt Studienleiterin Isolde Fugunt das. "Wir müssen dem Zweifel Raum geben", empfiehlt sie.

"Wir setzen uns nie Ziele"

Wie das in der Praxis aussieht, erzählt Bastian Obermayer von der Süddeutschen Zeitung beim Werkstattgespräch mit Christina Elmer von Spiegel. Als Ressortleiter Investigative Recherche ist er unter anderem für Enthüllungen wie das Strache-Video und die Panama Papers verantwortlich. "Wir setzen uns nie Ziele. Wir machen Geschichten nicht, weil wir jemanden weg haben wollen. Sonst könnten wir nicht ergebnisoffen recherchieren", sagt Obermayer. Der Faktencheck nimmt inzwischen einen großen Teil der Zeit in Anspruch. "Oft haben wir keine Protagonisten, sondern nur Dokumente. Dann müssen wir jede Aussage in den Dokumenten belegen. Es kommt vor, dass wir feststellen, dass eine Aussage nicht ganz stimmt und wir Dinge wieder ändern", sagt Obermayer. Sieben bis neun Leute arbeiten mit ihm im Investigativ-Team. Oft ist nicht ersichtlich, wer zu einer Geschichte das meiste beigetragen hat. "Wir brauchen Kollegen mit großem Adressbuch und kleinem Ego", scherzt Obermayer.

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