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Alle für einen oder jeder für sich?

Wie solidarisch ist die EU?

Solidarität ist einer der Eckpfeiler der Europäischen Union. Wird die Solidarität tatsächlich beansprucht, gibt es jedoch regelmäßig Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten. In der Finanz- und Staatsschuldenkrise sowie in der Migrations- und Schengenkrise wurden Solidaritätsbrüche ersichtlich. Ist Solidarität jenseits nationalstaatlicher Kontexte überhaupt denkbar? Und wie viel Solidarität kann ein Mitgliedstaat von der Gemeinschaft erwarten? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Tagung "Solidarität in der EU: Nicht nur eine Frage des Geldes".

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 25.03.2019

Von: Beate Winterer, Johanna Lennhoff / Foto: Beate Winterer

Programm: Solidarität in der EU

Flickr APB Tutzing

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Für 18 Prozent der EU-Bürger ist Solidarität der Wert, der die Europäische Union am besten repräsentiert. Davor liegen in der Eurobarometer-Umfrage von 2018 Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wie viel Solidarität die einzelnen Staaten einander entgegenbringen hat sich laut Jürgen Mittag von der Deutschen Sporthochschule Köln über die Jahre jedoch verändert. Während sich die sechs Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg solidarisch verhielten, gingen bereits den ersten Erweiterungen zähe Verhandlungen voraus, in denen Solidarität häufig eine untergeordnete Rolle spielte. Insbesondere die fehlende Politisierung der europäischen Öffentlichkeit und das neoliberale Wirtschaftsmodell der Union identifizierte Hauke Brunkhorst von der Europa-Universität Flensburg als ursächlich für die Schwierigkeiten Solidarität über nationale Grenzen hinweg zu transportieren. In der Abgrenzung nach außen verhalten sich die Staaten allerdings solidarisch. "Das hat sich beispielsweise bei den Brexit-Verhandlungen gezeigt, in denen große Einigkeit innerhalb der Union herrschte. Oder im Außenhandel: Die EU-Kommission vertritt alle Mitglieder in der Welthandelsorganisation", sagt Mittag. Soweit, dass Großbritannien und Frankreich ihre Sitze im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zugunsten eines EU-Sitzes aufgäben, gehe die Solidarität jedoch nicht. Als besonders solidarische Instution habe sich das Europaparlament erwiesen. "Dort schaffen es mehr als 200 nationale Parteien, sich in sieben oder acht Fraktionen zu vereinen", erklärt Mittag.

Solidarität erweitert nationale Spielräume

Auch Jürgen Neyer von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) hält das EU-Parlament für essenziell. In der digitalen Gesellschaft seien die persönlichen Beziehungen zwischen den Bürgern verschwunden. "Redistributive Solidarität ist ohne analoge Kommunikation aber nicht möglich", glaubt Neyer. Deshalb hält er die öffentlichen Diskussion des Parlaments für "die höchste Form der Annäherung".

Hans-Jürgen Bieling von der Eberhard Karls Universität Tübingen sieht aktuell in Europa zwei konkurrierende Solidaritätsmodelle. Im neoliberalen Kosmopolitismus treten Akademiker und Manager über nationale Grenzen hinweg für Freihandel, Multikulturalismus und eine stärkere europäische Integration ein. Der populistische Nationalismus versucht genau das zu bekämpfen, indem EU-Skeptiker europaweit die soziale und die nationale Frage verbinden. "Dabei könnte eine stärkere europäische Integration auch die nationalen Spielräume erweitern. Beispielsweise, wenn die einzelnen Staaten durch eine europäische Digitalsteuer mehr Geld einnehmen", erklärt Bieling.

Wie viel Solidarität braucht die EU?

Dass die Europäische Union mehr Solidarität braucht, darüber waren sich der deutsch-ungarische Musiker Leslie Mandoki und Helen Wullenweber, Kandidatin von Volt Deutschland für das Europaparlament, bei der Podiumsdiskussion einig. Mandoki kritisierte vor allem die mangelnde Vertragstreue, insbesondere in der Umweltpolitik. "Es ist eine Schande, dass unsere Kinder freitags auf die Straße gehen müssen, weil Europa es nicht schafft, Verträge einzuhalten", sagte er. Wullenweber glaubt, dass eine europäische Körperschaftssteuer dringend nötig sei, um die Solidarität zwischen den Staaten zu stärken: "Es gibt keinen Grund, warum man Steuerdumping zulassen sollte."

Europäische Solidarität in der Praxis

Wie steht es um die Solidarität in einzelnen Politikfeldern? Stefanie Börner von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg glaubt, dass eine europäische Sozialpolitik mehr Solidarität konstruieren könne. "Nur für die wenigen mobilen EU-Bürger, die nicht in ihrem Heimatland arbeiten, gilt ein transnationales Sozialrecht. Dabei könnte eine europäische Sozialpolitik die Grundlage für eine soziale Staatsbürgerschaft schaffen", sagt Börner. Eine gemeinsame Arbeitslosenrückversicherung schlägt Mathias Dolls vom ifo Zentrum für Makroökonomie und Befragungen vor. Diese sollte die Elemente Risikoteilung/ Krisenlinderung sowie Marktdisziplin/ Krisenprävention verbinden und eine Brücke zwischen Süd- und Nordeuropa schlagen. Denn aktuell befinde die Widerstandsfähigkeit der Euro-Zone gegenüber zukünftigen Krisen "in einer fragilen Situation".

Die gesamteuropäische Solidarität sei zwar Ziel einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die politische Praxis sei jedoch von einer "variablen Solidarität" geprägt, sagt Gisela Müller-Brandeck-Bocquet von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. "Koalitionen der Willigen" trieben häufig außen- und sicherheitspolitische Projekte voran, für die sich keine Einstimmigkeit innerhalb der europäischen Union herstellen lasse. Die verhältnismäßig hohe Zahl gemeinsamer Stellungsnahmen und Sanktionen sei jedoch ein Zeichen dass "die EU mal wieder viel besser als ihr Ruf ist". Eine umfassendere Handlungsfähigkeit als in der Außen- und Sicherheitspolitik bescheinigte Miranda Schreurs von der Hochschule für Politik München der Union in Fragen der Umwelt- und Klimapolitik. Global betrachtet nehme die EU in diesem Politikfeld eine "Vorreiterrolle" ein, die eine Normensetzung auf globaler Ebene möglich mache. Innerhalb der europäischen Union gäbe es jedoch unterschiedliche Prioritäten in puncto Umweltpolitik, allerdings ließen sich spill-over-Effekte von einzelnen - beispielsweise skandinavischen - Ländern auf die europäische Ebene beobachten.

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