Krise?!?

Verblasstes Vertrauen in Politik, Gesellschaft und Demokratie

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 26.09.2018

Von: Theresa Fischer und Sebastian Haas

Foto: APB Tutzing

# Gesellschaftlicher Wandel, Demokratie, Parlamente Parteien Partizipation

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Die von vielen beschworenen Krisenanzeichen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft liegen zum Teil darin begründet, dass Vertrauen zunehmend schwindet oder nicht mehr selbstverständlich ist. Die etablierten Institutionen der repräsentativen Demokratie wähnen sich in einer Glaubwürdigkeitskrise. Welche Folgen birgt das steigende Misstrauen in die Politik ausgewählter Staaten, und wie kann das Vertrauen der Menschen zurückgewonnen werden?


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„Wann war die Demokratie demokratischer als heute?" Diese Frage stellt Wolfgang Merkel (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) regelmäßig vor dem Hintergrund, ob sich die Demokratie überhaupt in einer Krise befinde. Denn bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden zum Beispiel Frauen, Homosexuelle und Fremde diskrimiert. Merkel stellt die Hypothese auf, dass vor allem die saturierte Ober- und Mittelschicht der Demokratie ein hohes Maß an Vertrauen entgegenbringt. Beim Rest der Bevölkerung ist das Vertrauen geringer. Vor allem in Osteuropa lasse sich das starke Misstrauen an der niedrigen Wahlbeteiligung beobachten.

Das Demokratie-Paradox

Misstrauen gegenüber Machtträgern könne allerdings durchaus positiv gesehen werden - nämlich als kritisches Hinterfragen. Der heutige Diskurs werde vor allem vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Konfliktlinie „Kultur und Rechte" geführt. Hier stehen sich idealtypisch die Kosmopoliten und die nationalistisch denkenden Personen gegenüber. Merkel stellt fest, dass vor allem enttäuschte Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf dramatisch empfundene Ereignisse (wie den Zuwachs an Geflüchteten in den Jahren 2015/6) zum Vertrauensverlust geführt haben. Das Paradox: Qualität und Vulnerabilität der Demokratie haben zugleich zugenommen.

Österreich: Zufriedenheit auf Zeit?

Man kann der österreichischen Bundesregierung vieles vorwerfen, nicht aber, dass sie ihr Programm nicht durchziehen würde. In Bezug auf die Europäische Union gilt: Subsidiarität, Effizienz in Migrationspolitik, Grenzsicherung und Wettbewerbsfähigkeit. Als Motto für die derzeitige österreichische Ratspräsidentschaft wurde daher "Ein Europa, das schützt" ausgerufen. Die Schwerpunkte des innenpolitischen Programms liegen auf einer Verschärfung des Asylrechts, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Steuerboni für Familien. All das wird von einem modernen Kommunikationsstil getragen, der ganz auf Die neue Volkspartei / ÖVP und Bundeskanzler Sebastian Kurz zugeschnitten ist. So sind die Umfragewerte in Bezug auf die Regierungsarbeit sowie das repräsentative System stabil: drei Viertel der Bevölkerung sind weitgehend zufrieden, wie Katrin Praprotnik von der Donau-Universität Krems erläutert. Doch sie schränkt auch ein: "Die Missgunst - auch parteiintern - gegenüber der Liste Kurz wird aufkommen, sobald ihr Erfolg ausbleibt."

Italien: Familie macht Wirtschaft

Ulrich Glassmann (Europa-Universität Flensburg) erläuterte die politische Lage in Italien mit Verweis auf die wirtschaftlich-familiären Verhältnisse. Im Süden besteht ein familiäres Wohlfahrtsmodell: Frauen arbeiten kaum, viele brechen die Schule ab und arbeiten sich in der Selbsthilfe im kleinen Familienbetrieb auf. Die starke Bindung an die Familie führt zu einer schwachen Wirtschaft - und das macht für die Wähler die Fünf-Sterne-Bewegung interessant, die ein Bürgereinkommen verspricht. Umgekehrt sieht es im Norden mit seinem familiären Unternehmensmodell aus: Frauen arbeiten, Jugendliche machen ihren Schulabschluss, wenige helfen umsonst aus - da kommt die Lega-Forderung nach wirtschaftlicher Flexibilität gut an. Beste Voraussetzungen für eine populistische Allianz an der Staatsregierung, unter der das Vertrauen in die etablierten Institutionen Italiens auf einem Tiefpunkt angelangt ist. Politik wird hier seit Jahrzehnten nicht aus dem Amt bestimmt, sondern von Einzelpersonen wie Grillo, Salvini oder Berlusconi.

Vertrauens-Erosion in Mittelosteuropa

Die Startbedingungen für die Demokratie in den Staaten Mittelosteuropas seien nach dem Ende des Eisernen Vorhangs schlecht gewesen - das erläuterte Kai-Olaf Lang vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP). Grundlegend sei eine ererbte ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Staat und den Eliten. Dazu kamen nach Langs Einschätzung vier Triebkräfte, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ausgehöhlt haben:

  1. gebrochene Versprechen der Systemtransformation sowie in Bezug auf einen Beitritt in die Europäische Union;
  2. andauernde Korruption;
  3. die wachsende Kluft zwischen liberaler und traditioneller Werteordnung;
  4. der von Technokratie geprägte Transformationsprozess.

Aufgrund des gesunkenen Vertrauens treten laut Lang nun verschiedene Effekte auf. Unter anderem die „Exit – Variante", die zu einer Entpolitisierung und sinkender Wahlbeteiligung führt. Gleichzeitig finde eine Re - Mobilisierung der Menschen statt: Parteien mit starken Ideologien bewegen die Bürgerinnen und Bürger zu mehr Engagement in der Politik. Die schwerwiegende Konsequenz für die Europäische Union ist, dass die Skepsis gegenüber europäischen Einrichtungen steigt und eine neue Art von Protektionismus entsteht. In Langs Einschätzung entstand die Vertrauenskrise vor allem durch Fehler in der Demokratisierung. Sein Appell: "Wir brauchen einen realpolitischen Umgang mit den Ländern Mittelosteuropas."


Weitere Informationen

Das Research Lab Democracy and Society in Transition der Donau-Universität Krems

"Ein Europa, das schützt" - phoenix mit Informationen zur österreichischen EU-Ratspräsidentschaft

Nach den Wahlen in Italien: "Kein Vertrauen in die politische Elite" (Deutschlandfunk)

Italien verroht: DIE ZEIT über den Umgang mit Geflüchteten in Italien

Brückenprojekt von Wolfgang Merkel: Die politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus


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