Die panische Mediengesellschaft

Echtzeit-Kommunikation im digitalen Zeitalter

Bayreuth / Tagungsbericht / Online seit: 19.05.2017

Von: Franziska Vogel

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# Medien

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Amokläufe, Terroranschläge oder sexistische Entgleisungen des neuen US-Präsidenten – Fotos, Filme und Texte werden in Sekundenschnelle über Twitter, Facebook & Co. weltweit in einem Schneeballsystem verbreitet. Doch was passiert, wenn 113.000 Tweets in der Nacht des Münchner Amoklaufs im Juli 2016 die Menschen in der Stadt verunsichern und es 73 Phantom-Tatorte gibt? Was bedeutet dieser neue Strukturwandel von Öffentlichkeit nun für die Demokratie und politische Kommunikation? Und wie verändert sich private Kommunikation, wenn sie immer öffentlicher und damit politischer wird? Wird unsere Gesellschaft hysterischer? Themen einer Tagung der Akademie für Politische Bildung gemeinsam mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Medien (EAM) in Bayreuth.


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Man könne allenfalls von einer panischen Gesellschaft sprechen, meinte der Berliner Medienpsychologe Daniel Salber, da es sich bei Hysterie um ein individuelles Krankheitsbild handelt. Es herrsche eine generelle Angst, nicht mehr mitzukommen in einer Zeit des Hastens und Rasens. Die Erwartung, diesen übermenschlichen Ansprüchen übermäßiger Schnelligkeit gerecht zu werden, mache Angst. Medien seien omnipräsent. Mit diesem ständigen Zwang zur Information und der Reizüberflutung bringe sich der Mensch selbst aus der Ruhe und werde panisch. Wenn die Technik versagt, ist er hilflos. Im „Info-Dusel" gebe es ein allumfassendes Rauschen. Salber stellte daher eine eher altmodische, aber wichtige Frage: Wie viel Medien braucht der Mensch? Er rät zum Abschalten und zu einem stoischen Medien-Menü mit dem richtigen Maß der Dinge.

Die Rolle der Medien beim Amoklauf

Viktoria Roth vom Institut für Interdisziplinäre Gewaltforschung der Universität Bielefeld forscht über jugendliche Amokläufer. Sie dienen in der Regel der Selbstdarstellung der Täter. Sie haben einen symbolischen Wert – es sollen soziale oder politische Botschaften vermittelt werden. Da ohne Adressat eine Botschaft allerdings nicht funktioniert, soll die mediale Verbreitung der Tat – digital oder analog – sicherstellen, dass die Botschaft in der Öffentlichkeit ankommt und verstanden wird. Medien unterstützen diese Ziele mit ihrer Berichterstattung. Sie kann Faszination auslösen, weshalb sich Amokläufer fast immer auf die Aussagen oder die Inszenierung voriger Attentäter und Vorbilder berufen. "Der mediale Umgang mit solchen Vorfällen muss sich ändern", schlussfolgert Roth. Eine sensiblere Wortwahl sowie neutrale und zurückhaltendere Darstellung sei nötig. Keinesfalls dürfe sie die Täter zu Helden machen.

Lehren aus der Münchner Amoklaufnacht

Anja Miller ist Nachrichtenchefin beim Bayerischen Fernsehen. Sie sieht das größte Problem der Kommunikation in der Nacht des Münchner Amoklaufs vom Juli 2016 in den vielen Gerüchten und Falschmeldungen. Sie seien kaum zu stoppen, vor allem dann nicht, wenn sie online verbreitet würden. Vertrauenswürdige Institutionen wie Polizei, Rundfunk und Zeitungen sollten Eckpunkte oder Fortschritte bei den Ermittlungen mitteilen. Anderenfalls würde das Informationsvakuum verbunden mit Angst und Panik noch mehr Raum für Gerüchte lassen.

Der Pressesprecher der Münchner Polizei, Marcus da Gloria Martins, bezeichnete die Gerüchte der Amoknacht nicht als „Fake News". Denn fast jedes ging auf einen der insgesamt 4310 abgesetzten Notrufe dieser Nacht zurück ,es wurde aus Angst und Verunsicherung gehandelt. Da Gloria Martins gab zu: Die Wirkung des Nachrichtendienstes WhatsApp habe die Münchner Polizei unterschätzt. Nachrichten wurden nicht nur an eine Adresse geschickt, sondern oft mit allen Kontakten des Telefonverzeichnisses geteilt. „Und bei Informationen, die von einer vertrauten Person kommen, denkt man: Das muss stimmen. Meine Freundin weiß das schließlich." Es werde vergessen, dass man die Quelle und die Glieder der Informationskette nicht kennt. Sowohl für den Journalismus als auch für die Polizei sieht da Gloria Martins nur eine Möglichkeit, seriös zu arbeiten: Mit Handwerk, Sorgfalt und Zeit. Auch in einer Nacht wie dem 22. Juli 2016.

An diese Regeln hielt sich auch Martin Bernstein, der als Polizeireporter der Süddeutschen Zeitung als einer der ersten Journalisten am Tatort im Münchner Olympia-Einkaufszentrum war. Trotz der Ausnahmesituation wurden keine Informationen herausgegeben, die nicht von zwei Quellen oder der Polizei bestätigt werden konnten. Bernstein sieht große Herausforderungen für den Journalismus in Krisenzeiten: Die Arbeit muss sowohl gut recherchiert als auch schnell sein – ein Liveticker könne diesem Anspruch nicht gerecht werden.

Durchblick durch Algorithmen

Lösungsansätze einer ganz anderen Art suchte Christopher Koska vom Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft. Können Algorithmen in Ausnahmesituationen helfen? Zwischen der Komplexität und der Beschleunigung von Kommunikation und den ethischen Grundwerten – Transparenz, Reflexivität und Diskurs – liegt offensichtlich ein klarer Widerspruch mit der Echtzeit-Kommunikation. Durch Dinge, die der Computer schneller ausrechnen oder Daten, die er schneller sammeln kann, kann Zeit gewonnen werden für das, was Algorithmen nicht können: Urteilen und Vergleichen. Dadurch könne in Krisensituationen ein besserer Überblick geschaffen werden. Außerdem könnten Algorithmen in solchen Situationen auch schnellere und vielleicht sogar bessere, sachlichere Entscheidungen treffen. Allerdings: Sie werden von Menschen programmiert. Ihre Entscheidungen können lediglich mit Erfahrungen aus der Vergangenheit unterfüttert sein und sind nur so gut oder schlecht wie die Programmierkunst der Informatiker.


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