Bundestagswahl 2017

Wahlrecht und Wahlsystem auf dem Prüfstand

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 30.01.2017

Von: Tobias Rieth

Foto: APB Tutzing

# Parlamente Parteien Partizipation

In diesem Jahr ist Bundestagswahl, aber wie wirkt sich meine Stimme überhaupt auf die Zusammensetzung des Bundestags aus? Dass unser komplexes Wahlrecht in seiner jetzigen Form wohl nur von einigen Wenigen verstanden wird, ist für eine Demokratie eine beschämende Feststellung. Zudem könnten rein rechnerisch dieses Jahr mehr als 700 Abgeordnete in den Bundestag einziehen. Brauchen wir also ein neues Wahlrecht?


Von einem „ganzen Expertennetzwerk“ das zugegen ist, sprach Tagungsleiter Jörg Siegmund. Und tatsächlich saßen mit unter anderem Professor Florian Grotz und Professor Hans Meyer mehrere Koryphäen des Themengebiets im Publikum. „Wahlrecht und Wahlsystem auf dem Prüfstand“ lautete das Thema der Tagung und schon im ersten Vortrag, der für die Gäste eine Einführung in die Materie war, ging Professor Joachim Behnke hart mit dem jetzigen Wahlrecht ins Gericht. Das aktuelle Wahlsystem führe, auf Grund des Ausgleichs der Überhangmandate, zu einer „Aufblähung des Bundestages“ in der nächsten Wahl. Dieser Trend habe sich in den letzten Jahren immer weiter verstärkt, da die Parteienzahl im Bundestag steige: mit FDP und AfD könnten im nächsten Parlament sechs Parteien vertreten sein. Das könnte zu einer Rekordzahl an Mandatsträgern im Bundestag führen, die weit über dem gesetzlichen  Richtwert von 598 Abgeordneten läge. Wichtigster Impetus für diese Vergrößerung sei die CSU, denn jedes Überhangmandat der Partei sorge für 12 bis 15 Ausgleichsmandate im Bundestag für die anderen Parteien. Nach einem Parforceritt durch die Geschichte des deutschen Wahlrechts, sprach Behnke mehrere Reformmodelle an, inklusive des Vorschlags von Parlamentspräsident Norbert Lammert. Den Schluss setzte Behnke mit einem Plädoyer für eine Wahlrechtsreform, denn neben erhöhten Kosten für den Steuerzahler seien auch „Effektivität, Legitimation und Erfolgswertgleichheit“ des Parlaments in Gefahr.

Ausländerwahlrecht

Den zweiten Tag eröffnete Prof. Hans Meyer mit seinem Vortrag zum Thema „Integration durch Partizipation?“. Dem historischen Überblick folgte das Zitat, um das sich der größte Teil des weiteren Vortrags und der anschließenden Diskussion drehen sollte: „ Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art.20, GG). Doch wer ist das Volk? Wie wird und wie sollte man Staatsangehöriger werden? Mit der Freizügigkeit der Personen innerhalb der EU und mit der schrittweisen Übernahme von Elementen des ius soli, habe Deutschland „akzeptiert, ein Zuwanderungsland zu sein“. Durch eine Einbürgerung und ein Wahlrecht für in Deutschland ansässige Ausländer, würde eine Zwei-Klassen Gesellschaft verhindert werden. Außerdem hätte das Auswirkungen auf die Parteien, die auf die neuen potentiellen Wähler reagieren würden. Abschließend sagte Meyer, dass er optimistisch sei, dass sich das Ausländerwahlrecht erweitern wird, da sich historisch gesehen „das Wahlrecht immer weiter ausbreite.“

Kinder an die Urne

Den nächsten Akzent setzte Renate Schmidt, die ehemalige Bundesfamilienministerin, mit einer Lesung aus ihrem Buch „Lasst unsere Kinder wählen!“. Ein Wahlrecht ab null Jahren ist ihrer Meinung nach sinnvoll, da die Interessen der heranwachsenden Generation in der deutschen „Altenrepublik“ viel zu wenig berücksichtigt werden. Die Eltern der Kinder würden dann das Wahlrecht für die Kinder stellvertretend ausüben, bis diese sich selbst in ein Wählerverzeichnis eintragen. Das würde Zukunftsthemen verstärkt auf die Agenden der Parteien rücken und die politische Kommunikation vor allem in Richtung Jugend verbessern, wovon aber auch die anderen Generationen profitieren würden. Eine lebendige Debatte entbrannte nach der Lesung, in der die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und die konkrete Umsetzung diskutiert wurden. Auch wurden Zweifel an der Fähigkeit von Kindern, eine politisch fundierte Wahl zu treffen und an den Stellvertreterqualitäten der Eltern geäußert. Außerdem brachte Tagungsleiter Jörg Siegmund die Ergebnisse des Parlaments der Generationen mit ein. In diesem Versuch untersuchte die Akademie für Politische Bildung, in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den politischen Entscheidungsprozess. Demnach verlaufen die Konfliktlinien meist nicht zwischen Generationen, sondern zwischen Interessensgruppen. Mit dem Fazit, dass „das Wahlrecht für Kinder nur ein Baustein für mehr Generationengerechtigkeit sei“, schloss Schmidt die Debatte. 



Bildergalerie

Flickr APB Tutzing

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Weitere Informationen

Lasst unsere Kinder wählen!

Bertelsmann Stiftung Einwurf: Zukunft der Demokratie von Prof. Robert Vehrkamp und Prof. Florian Grotz


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