Im Visier

Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess / Amokläufe, Zugunglücke, Flucht und Personalisierung

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 11.03.2016

Von: Sebastian Haas

# Medienethik

Download: Im Visier der Meute. Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess

Journalisten müssen recherchieren und berichten. Aber dürfen sie in der Privatsphäre von Menschen stöbern? Dürfen sie jedes Ergebnis ihrer Recherche, jedes Foto, jedes Video publizieren? Wo liegen die Grenzen? Gemeinsam mit dem netzwerk recherche und der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir sie aufgespürt.


Journalisten Meute netzwerk recherche Akademie

Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess - Thema unserer gemeinsamen Tagung mit dem netzwerk recherche und der Bundeszentrale für politische Bildung (Grafik: netzwerk recherche).

Im Mittelpunkt des Programms stehen Prominente, die nach einem tatsächlichen oder vermeintlichen Skandal ins Blickfeld von Journalisten geraten sind, ebenso wie Bürger, die durch Straftaten oder Katastrophen ins öffentliche Interesse rückten. Deshalb haben Journalisten auf dem Podium und im Publikum mit Experten diskutiert, die sich um die Betreuung von (Medien-)Opfern kümmern oder das Geschehen wissenschaftlich begleiten.

Die Skandal-Spirale

Unter diesem Motto stand der Vortrag von Prof. Dr. Steffen Burkhardt von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Der Medien- und Kulturwissenschaftler beschäftigt sich intensiv mit Formen der Skandalisierung, die übrigens immer nach dem gleichen Muster verläuft: Einer sogenannten Latenzphase, in der sich der (vermeintliche) Skandal zusammenbraut, folgt der Aufschwung des Skandals, dessen Etablierung im gesellschaftlichen und (massen)medialen Diskurs, irgendwann kommt es zum Abschwung, an dessen Ende sich die Phase der Rehabilitierung anschließen kann. Eines aber hat sich durch die zunehmend internationalisierte und digitalisierte Kommunikation inzwischen entscheidend geändert: die Rollen sind nicht mehr eindeutig verteilt, jeder kann einen Skandal erzählen, die unumstrittene Stellung der einordnenden Medien bröckelt dahin.

Einmal Politik und zurück

Susanne Gaschke hat die Höhen und Tiefen des Politikerinnenlebens am eigenen Leib erfahren - und das innerhalb kürzester Zeit. In Kiel trat die ehemalige Autorin der ZEIT für die SPD als Oberbürgermeisterin an, bewältigte erfolgreich die Wahlkampfzeit, wurde tatsächlich gewählt und ernannt, und kämpfte dann ein knappes Jahr gegen die eigene Partei, gegen die Opposition, gegen die Justiz und gegen die Medien, bis sie von ihrem Amt zurücktrat. Inzwischen ist sie in Berlin für die WELT tätig und sprach an der Akademie für Politische Bildung mit der Vorsitzenden des netzwerks recherche, Julia Stein vom Norddeutschen Rundfunk, über ihren wenig vergnüglichen Ausflug in die Politik und die Folgen.

Schutzschild für einen Helden

Sabine Kehm, die Managerin von Michael Schumacher / Kehm ist seit dem Jahr 2000 in Diensten des wohl immer noch berühmtesten deutschen Formel-1-Rennfahrers und seit dessen Skiunfall der personifizierte Schutzwall, um die Privatsphäre der ganzen Familie Schumacher zu schützen. Auch in der Akademie für Politische Bildung gab sie keinen Bericht über den körperlichen Zustand Michael Schumachers ab, sondern reflektierte kritisch die Rolle der Medien und ihre eigene Arbeit. Das Gespräch mit René Hofmann von der Süddeutschen Zeitung drehte sich um das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit einerseits und den Schutz der Privatsphäre andererseits. Denn in der Zeit nach dem 29. Dezember 2013 geriet die zuvor praktisch reibungslos praktizierte Trennung der öffentlichen Person Schumacher von der privaten stark ins Wanken. So muss Sabine Kehm noch heute immer wieder klarstellen: der Genesungsprozess jedwedes Kranken oder Verletzten hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.

Was Journalisten in Winnenden und Haltern angerichtet haben

Der Amoklauf an der Albertville-Realschule Winnenden im Frühjahr 2009 sowie der provozierte Absturz der Germanwings-Maschine im Frühjahr 2015 haben vielen jungen Menschen das Leben gekostet. Mika Baumeister war Schüler am Josef-König-Gymnasium in Haltern, von dem einige Opfer der Flugzeugkatastrophe stammten. Eine gute Woche lang hat er sich angesehen, wie Journalisten mit den Trauernden und deren Umfeld umgegangen sind: "hochnäsig, aufdringlich, sensationsgeil".

Ähnlich erging es den Angehörigen der Opfer des Amoklaufs an der Albertville-Realschule Winnenden im Frühjahr 2009 und teils bis heute. Der aktuelle Schulleiter Sven Kubick berichtete von permanenten Grenzüberschreitungen, die für enorme Skepsis des Lehrerkollegiums gegenüber der Presse sorgten. Eine der wenigen Ausnahmen: die lokale Winnender Zeitung. Deren Chefredakteur Frank Nipkau beschreibt das damalige Geschehen noch heute als "komplettes Versagen der Branche". Die Reaktionen der Medien sei ritualisiert und unreflektiert. Er fordert klare Regeln, die über den bestehenden Pressekodex hinausgehen.

Gisela Mayer vom Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden und die Journalistin Petra Tabeling vom Dart-Center für Trauma und Journalismus berichteten aus ähnlicher Perspektive. Beide bemerkten, dass in Winnenden "teils aus Rücksichtlosigkeit, teils aus Unachtsamkeit viel verbrannte Erde hinterlassen wurde". Journalisten würden zwar auf Gespräche und Begegnungen mit Mächtigen und Gewinnern vorbereitet, nicht aber auf solche mit Machtlosen, Gebrochenen, Betroffenen. Was einem großen Teil der Riege fehlt, ist die Fähigkeit zur Empathie.

Den Abschluss unserer Tagung bildete eine Diskussion mit Peer Steinbrück. Der frühere Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat hat seine ganz eigenen Erfahrungen mit Journalisten gemacht: „Am Anfang mochten sie den nicht-angepassten Politiker mit Hang zur Ironie. Ich war interessant. Irgendwann kippte das.“ Dieser „Rudel-Journalismus“ trage zur Banalisierung der Politik bei. Personalisierung und Skandalisierung seien weitere Ursachen der aktuellen Vertrauenskrise gegenüber den Medien: „Es ging irgendwann nur noch um das Gesicht, nicht um programmatische Substanz.“ Der SPD-Politiker forderte mehr Selbstkritik von Journalisten und Respekt im gegenseitigen Verhältnis. Die Berichte um den Fall des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff nannte er „gewalttätigen Journalismus“.

Sie können unsere Tagung "Im Visier. Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess" auf verschiedene Arten und Weisen nachvollziehen:

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