Integration am Ende?

Die Europäische Union zwischen Einheit und Vielfalt

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 26.10.2016

Von: Julia Haas und Sebastian Haas

Foto: APB Tutzing

# Europäische Integration

Download: Europäische Desintegration? Die EU im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt

Europäische Integration bis zur Union der Völker? Das war einmal. Der Brexit, der gescheiterte Europäische Verfassungsvertrag, die Wirtschafts- und Währungskrise sowie der Streit um die Flüchtlings- und Migrationspolitik bringen die Europäische Union an den Rand des Zusammenbruchs. Doch früher war nicht alles besser: Die Geschichte der EU ist voller Rückschläge und nationaler Reflexe.


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Ein Blick auf die europäische Einigungsgeschichte zeigt: zwischen all den Meilensteinen gab es stets Stillstand und Rückschläge. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft oder de Gaulles „Politik des leeren Stuhls“ sind nur zwei der vielen Momenten, in denen die Europäische Union vor der Perspektivlosigkeit stand.  Die gegenwärtige Situation in Europa sieht Professor Wilfried Loth, Historiker und Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, deshalb nicht als das Ende der europäischen Staatengemeinschaft. Sie sei vielmehr das Spiegelbild einer Krise der repräsentativen Demokratie. Loth betonte, dass aufgrund der gemeinsamen Interessen und Verflechtungen auch dieser Rückschlag durch die europäische Solidaritätsgemeinschaft und gezieltes Krisenmanagement überwunden werden kann. Denn entgegen Jacques Delors' einstigem Vergleich der EU mit einem Fahrrad, das bei Stillstand umfällt, ist sich Loth sicher:

Nicht jedes Rad, das stehen bleibt, muss umstürzen. Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried Loth, Universität Duisburg-Essen

Vor welche Herausforderungen die gegenwärtigen Entwicklungen die Integrationsforschung stellt, erläuterte anschließend Dr. Henrik Scheller, Lehrbeauftragter der Universität Potsdam, anhand theoretischer Überlegungen.

Problemzonen: Euro und Sicherheitspolitik

Die Schwierigkeiten der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion beschrieb Paul J. J. Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Bergischen Universität Wuppertal - sein Fokus lag dabei auf Griechenland, das seit sieben Jahren an Wirtschaftskraft verliert und politisch zusehends instabiler wird. Einen Grexit im Sinne eines Euro-Austritts bezeichnet Professor Welfens als nicht sinnvoll, da die griechische Wirtschaft faktisch nur noch durch die enge Bindung an den Euroraum am Leben erhalten werde. „Was Griechenland braucht, ist eine Verfassungsreform und einen Schuldenschnitt“, der nach Welfens' Meinung übrigens viel geringere Folgen auf den deutschen Haushalt habe als vom Bundesfinanzministerium erwartet. Die Staaten der EU könnten noch viel mehr zur politischen und finanziellen Stabilisierung Griechenlands beitragen - wenn sie nur wollten.

Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Verteidigungspolitik / Europäischer Rat, EU-Parlament, EU-Kommission, (noch) 28 Nationalregierungen / Rat für Außenbeziehungen, Europäischer Auswärtiger Dienst ... Die Liste der Akteure in der Europäischen Union ist lang. Zu lang, um zwischen Effizienz und nationaler Souveränität vernünftig agieren zu können? Dieser Frage stellte sich Sibylle Lang vom (ehemals staatlichen) Analyse- und Testdienstleistungs-Unternehmen IABG in Ottobrunn. Und es gibt ihn tatsächlich, den Versuch einer europäischen Sicherheitsstrategie (ganz im Gegensatz zur Diskussion um die sogenannte "Koalition der Willigen" im Zuge des Irak-Krieges 2003) nach dem Motto "Shared Vision. Common Action: A Stronger Europe". Diese beschäftigt sich nach Einschätzung Sibylle Langs vor allem damit "Schicksalsschläge auszuhalten, nach Krisen wieder aufzustehen" und klärt noch immer nicht endgültig, wie (eng) die militärische Integration in Europa letztlich aussehen soll.

Folgen eines möglichen Brexit

Was würde im Falle eines Brexit mit den britischen Sitzen im europäischen Parlament passieren und welche Stellung würde ihren jetzigen Amtsträgern zugesprochen werden? Diese und weitere theoretische Fragestellungen eines möglichen EU-Austritts Großbritanniens erörterte Rudolf Streinz, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Ludwig-Maximilians Universität in München. Mittels verschiedener Zukunftsszenarien zeigte er die Auswirkungen des Europarechts, das im Falle eines britischen Austritts aus der Europäischen Union zum Tragen kommt, auf.

Nach dieser Darlegung der gegenwärtigen rechtlichen Situation wagte Ruth Berschens, Redaktionsleitern des Handelsblattes in Brüssel, einen umfassenden Blick in die Zukunft: Die Frage, ob es Nachahmer des Brexit – Kunstwörter wie „Czexit“, „Swexit“ oder „Dexit“ suggerieren solche Folgeaustritte – gebe, verneint sie entschieden. Die Tatsache, dass selbst osteuropäische Hardliner keine Brexit ähnlichen Referenden angekündigt hätten, sei ein Zeichen des Bestehens für die EU. Gefahr sieht Berschens hingegen in der britischen Einflussnahme auf die Austrittsverhandlungen. Als konkretes Beispiel benannte sie die deutsche Maschinenbauindustrie. Durch die Entscheidung der britischen Bürger für einen Austritt aus der EU befürchten viele Unternehmen einen Rückgang des deutschen Maschinenbauexports nach Großbritannien; eine Befürchtung, die die britische Position in den Verhandlungen über einen Austritt stärken werde. Berschens Resultat daraus lautete: „Den großen Big Bang wird es nicht geben", die EU könnte vielmehr "schleichend zerbröseln“.

„Eine britische Sicht“

Einblick auf eine britische Betrachtung der gegenwärtigen Entwicklungen gewährte der britische Politikwissenschaftler Hans Kundnani. Seiner Ansicht nach werde die EU immer instabiler, der Brexit sei dafür jedoch nicht verantwortlich. Die wichtigsten Herausforderungen sieht er in der akuten Euro- und Flüchtlingskrise, in eben diesen zwei sei Großbritannien jedoch völlig unbeteiligt.

Die EU kann diese Krisen nur als Solidaritätsunion bewältigen. Hans Kundnani, German Marshall Fund

Diese Solidarität fehle momentan, wofür er unter anderem die deutsche Politik in der Verantwortung sieht. Deutschland, der „Halb-Hegemon“, habe zu Beginn der Flüchtlingskrise, als sie vor allem eine Krise der südeuropäischen Länder war, die Solidarität verweigert. Seit diese zum deutschen Problem geworden ist, fordert Deutschland eben diese Solidarität selbst ein. Kundnanis Meinung nach kann nur ein neues, gemeinsam entwickeltes, Solidaritätsverständnis die Europäische Union aus der Krise führen – Großbritanniens Austritt sei dabei zweitrangig. Im Akademiegespräch, das Akademiedirektorin Ursula Münch moderierte, rückte Großbritannien wieder in den Fokus. Hans Kundnani und Thomas Kielinger diskutierten Ursachen und Auswirkungen eines Brexit.

Gestaltung einer zukünftigen Europäischen Union

Unter der Fragestellung „Europa muss sich neu erfinden – aber wie?“ versuchten die Professoren Andreas Maurer von der Universität Innsbruck und Katharina Holzinger der Universität Konstanz, eine mögliche Neugestaltung der EU zu prognostizieren. Maurer fokussierte dabei die seiner Meinung nach entscheidendsten Sollbruchstellen im Vertragsgefüge der Europäischen Union und rief zur Vertragsprüfung auf, ohne dabei den gesamten Vertrag aufzuheben. Holzinger unterstütze die Prognose eines „flexiblen Europa“. Im Fokus stand dabei nicht die Desintegration, sondern die Differenzierung. Die Gültigkeit rechtlicher Regelungen müsse zunehmend differenziert werden, um die Herausforderung größer werdender Einigungsprobleme zu bewältigen.


Unser Akademiegespräch am See zu den möglichen Folgen des Brexit


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