Demokratie revisited

Theorien - Befunde - Perspektiven

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 07.11.2016

Von: Miriam Zerbel und Julia Haas

Foto: APB Tutzing

# Parlamente Parteien Partizipation

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Das Vertrauen vieler Bürger in demokratische Institutionen und die politische Führung schwindet immer weiter. Die Wahlbeteiligung sinkt, die Parteien verlieren immer mehr Mitglieder. Veränderungen in Staat und Gesellschaft legen die Diskrepanz zwischen Freiheit und Sicherheit offen. Warum zahlreiche Menschen von der Politik enttäuscht sind, warum die Verlustängste angesichts von Migration, Finanzkrisen und Terrorismus wachsen, diskutierten in Tutzing Parteien- und Parlamentarismusforscher, Sozialwissenschaftler und Journalisten.


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Eine entscheidende Bruchstelle stellte der Politikwissenschaftler und Jurist, Professor Hans Vorländer in seinem Einstiegsvortrag fest. Er differenzierte zwischen Demokratie als Entscheidungsform und Demokratie als Lebensform. Zudem sei der Vorteil der repräsentativen Demokratie, nämlich die Distanz zum Bürger, zugleich ihr Nachteil. Auf der Demokratie laste nunmehr die Erwartung unmittelbarer Handlungsfähigkeit, die aber den komplexen Entscheidungsbildungsprozessen nicht entspricht. Die Distanz werde von rechtspopulistischen Empörungsbewegungen ausgebeutet nach dem Motto „das Volk steht gegen die da oben“. Mit Verweis auf Beispiele aus den USA stellte Vorländer, der auch Gründer des Dresdner Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung ist, einen ethnozentrischen Identitätspopulismus fest. Demnach sind die Vorrechte derer, die schon lange da sind, ausschlaggebend mit Blick auf diejenigen, die (als Flüchtlinge) neu dazukommen. Mehr zur Kontroverse in der Migrationsdebatte lesen Sie hier in einem Interview mit  Professor Vorländer.
Strukturelle Veränderungen wie die Globalisierung, eine immer komplexer werdende Politik und ein elitenfunktionales System, in dem in der Krise die Kanzlerin entscheidet, führten beispielsweise zum Versuch der Renationalisierung. Der Politikwissenschaftler warnte zudem vor einem Auseinanderbrechen der öffentlichen Räume durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit. „Die grundlegende Veränderung der sozialen Struktur in Deutschland macht mir Sorge“, sagte Vorländer, der sich zugleich gegen den Vorwurf eines Niedergansdiskurses verwahrte. In der lebhaft geführten Diskussion sprach er vor einer Koalition der Abgehängten und derjenigen, die sich kulturell nicht vertreten fühlten.

Keine Übertragung nationalstaatlicher Demokratiemodelle

Wie es sich für einen Juristen gehört, vertrat Privatdozent Claudio Franzius von der Universität Bremen eine normative Perspektive. Die politische Herrschaft verschiebe sich in überstaatliche Räume. Das Demokratieverständnis müsse also europäischen Gegebenheiten angepasst werden, eine Übertragung nationalstaatlicher Modelle sei unzulänglich. Das machte er am Beispiel des Handelsabkommens CETA zwischen der EU und Kanada deutlich. „CETA fällt ausschließlich in die Kompetenz der Union“, das steht für Franzius ohne jeden Zweifel fest. „CETA zeigt aber, dass wir uns in der Union nicht immer auf das Recht verlassen können.“ Auch wenn die Union nicht rechtlich dazu gezwungen sei, unterwerfe sie sich beim CETA-Abkommen der Legitimation durch die Mitgliedsstaaten. Besonders provozierte er seine Zuhörer mit der These, er halte nichts von Souveränität. Die Frage danach müsse in der EU unbeantwortet bleiben.

Mit der Frage, warum Demokratie und Öffentlichkeit enttäuschen, beschäftigte sich Professor Dirk Lüddecke von der Universität der Bundeswehr München. Der Politikwissenschaftler äußerte fünf Vermutungen:

  1. Das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit leide an einer bipolar gestörten Begriffsbildung
  2. Die öffentliche Meinung hat ein Subjekt, dass nicht direkt der Bürger selbst ist
  3. Die öffentliche Meinung kann daneben liegen, auch wenn man nicht zu viel von ihr erwartet
  4. Der Umfang der Handlungsoptionen für die Politik in modernen Gesellschaften wird überschätzt
  5. Die gegeninstitutionelle Gestalt der öffentlichen Meinung

Seit 200 Jahren werde die Verfallsgeschichte kritischer Öffentlichkeit erzählt, aber noch immer sei die öffentliche Meinung nicht tot. Was allerdings in der Kommunikation von Gefühlen fehle, so stellt Lüddecke fest, sei ein Abklingbecken der Gefühle, so wie das früher der Stammtisch geleistet habe.

Starke Exekutivbezogenheit

Keine generelle Krisendiagnose stellte der Soziologe und Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages, auch wenn der Ausfall der Parteien eine Lücke in die repräsentative Demokratie gerissen habe. Seine empirischen Untersuchungen zeigten vielmehr ein Zufriedenheitsparadox: die Befragten seien sehr wohl mit der Demokratie zufrieden, nicht aber mit den Parteien. Vor allem die eigene wirtschaftliche Lage sei dafür ein Gradmesser, so das Ergebnis des emeritierten Professors der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Die Funktionskrise der repräsentativen Demokratie durch die Parteienverdrossenheit werde kompensiert durch die Zufriedenheit mit der sozialen Marktwirtschaft und der Arbeit der Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin. Er sprach vom Vertrauensbedürfnis der Bevölkerung gut geführt zu werden, was sich auch in der starken Exekutivbezogenheit in Deutschland zeige.

"Es gibt eine Distanz zu den Parteien, aber keine Distanz zur Demokratie in Deutschland." Prof. Helmut Klages

In seiner Betonung des Selbstentfaltungsbedürfnisses der Menschen als wichtigstem Wert, das keine Zeit für Engagement in der Politik lässt, blitzte Klages grundlegende Forschung aus den 1970er Jahren zum Wertewandel durch.

In allen Bundesländern ist die Volksgesetzgebung in der Verfassung verankert und auch auf Bundesebene wurde eine Übernahme dieser Regelung vorgeschlagen. Warum scheint trotzdem für viele die direkte Demokratie in Deutschland ein Phantom zu sein? Der Bonner Professor Frank Decker von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität sieht die Ursache in der Systemunverträglichkeit: „Der Parlaments- und der Volkswille lassen sich oft nur schwer in Einklang bringen.“ Um diese Differenzen zu überbrücken, müsse in Zukunft eine mittlere Linie gefahren werden, die sowohl Parlament als auch Volk in ihrer Entscheidungsfähigkeit stütze, so Decker.

Dass es diese Kooperation zwischen Volk und Parlament bereits gibt – zumindest auf Landesebene – veranschaulichte Professor Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Anhand verschiedener Bürgerbeteiligungsverfahren in Baden Württemberg, sei es online oder persönlich, zeigte er die Vorteile der partizipativen Landesgesetzgebung auf. Sein Fazit: die Möglichkeit der Bürgerbeteiligung verbessert nicht nur die Qualität der Gesetzgebung, sondern schafft auch die für eine Demokratie notwendige Transparenz. 

„Kritische Bürger sterben nicht aus“

Wie es um neue Formen der Beteiligung bestellt ist, beleuchtete ein Forscherteam von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Mit dem Debat-O-Meter hat Professor Uwe Wagschal mit Thomas Metz und Thomas Waldvogel ein neues Werkzeug geschaffen, dass die politische Partizipation per Echtzeitbefragung für unterschiedliche Formen politischer Debatten, beispielsweise bei Fernsehduellen, misst. Mittels der App kann das Publikum im Fernsehen übertragene Debatten von Politikern bewerten. Erstmals eingesetzt wurde die Methode beim TV-Duell zwischen den Spitzenkandidaten Guido Wolf und Winfried Kretschmann im baden-württembergischen Landtagswahlkampf am 14. Januar des Jahres. Die Forscher versprechen sich davon nicht nur einen Nutzen für ihre Arbeit, sondern auch, die Menschen näher an die Politik heranzuführen.

Auch wenn es bislang nur wenige Studien zur Einordnung von Online-Partizipation im Internet gibt, sieht Dr. Aiko Wagner vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung keine drohende Beteiligungskrise. Im Gegenteil. Über die Jahrzehnte, so Wagner, hätten die Facetten der Partizipation zugenommen. Zudem stellte Wagner eine Additive Nutzung von online und offline fest. Dennoch: „Die Abgehängten werden nicht erreicht“, so Wagner. „Die sowieso schon Interessierten bekommen ein neues Tool.“ Die zuversichtliche Botschaft Wagners lautete schließlich: „Kritische Bürger sterben nicht aus!“

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