Zucht und Ordnung

Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 20.11.2015

Von: Corinna Korn und Martin Mayer

# Gesellschaftlicher Wandel, Nationalsozialismus

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Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Körperliche Züchtigung ist heute glücklicherweise überall in Europa verboten. Der Anteil der Menschen, die gewaltfrei erzogen wurden, ist so über die Zeit deutlich gestiegen: in Deutschland von 26 Prozent im Jahr 1979 auf heute 52 Prozent. Dennoch sterben in den OECD-Ländern noch immer jährlich 3500 Kinder an tödlichen Verletzungen nach Vernachlässigung oder Misshandlung – die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen. Mit Blick auf die Industriegesellschaften haben Forscher eine Reihe von Faktoren untersucht, die Gewalt gegen Kinder entstehen lassen – allerdings sind diese Einsichten stark gegenwartsbezogen. Die historische Kontextualisierung steckt noch in den Anfängen. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind deshalb in der Akademie für Politische Bildung zusammengekommen, um die wissenschaftliche Debatte zur Frage der Gewalt gegen Kinder voranzutreiben. Die Ergebnisse der Diskussion werden in einem Sammelband veröffentlicht.

Auf der Tagung wurden drei Dinge rasch deutlich: Gewalt gegen Kinder ist ein Phänomen, das sich durch die gesamte Geschichte zieht. Dabei fand die gesellschaftliche Ächtung von Gewalt erst in allerjüngster Zeit statt. Dieser zivilisatorische Fortschritt, der im Verlauf der 1970er Jahre stattfand, steht damit gegenüber einer mehrtausendjährigen Gewaltgeschichte. Beruhigend aber, so die dritte Erkenntnis, bereits in der Antike gab es sehr aufgeklärte Debatten über den Unsinn von Züchtigungen, auch wenn dies damals nur die Söhne freier Bürger betraf.

Der Umgang mit "Kinderschändern" im Nationalsozialismus

Neben den Opfern wurden auch die Täter und deren Bestrafung in den Blick genommen. Deutlich wurde dabei, dass hinter scheinbar ehrenwerten Motiven wie dem Schutz von Kindern oft gänzlich andere Ziele versteckt wurden. Dr. des. Dagmar Lieske sprach über den Umgang mit "Kinderschändern" im Nationalsozialismus, die im Rahmen einer "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" häufig mit Kastration oder Sterilisation und bei Anordnung einer Sicherheitsverwahrung mit dem dauerhaften Ausschluss aus der Gesellschaft rechnen mussten – was häufig ihren Tod in einem Konzentrationslager bedeutete. Grund für den harschen Umgang war die scheinbar von "Kinderschändern" ausgehende Gefahr für die gesamte Volksgemeinschaft – sei es durch vermeintlich krankes Erbgut oder durch "Verunreinigung" der Jugend. Sexueller Missbrauch wurde somit als Angriff auf das NS-Gesellschaftskonzept gesehen – ein Angriff, der die Täter zu Verfolgten des Regimes und somit selbst zu problematischen Opfern des Nationalsozialismus machte.

Doch wie war es um die Opfer bestellt, die im Nationalsozialismus nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen? Dr. Sonja Matter von der Universität Bern berichtete, dass der Opferstatus misshandelter Kinder auch in der Nachkriegszeit oft in Frage gestellt wurde. Die Kinder galten als verdorben, ihren Aussagen wurde vor Gericht nur unter Vorbehalt Glauben geschenkt. Oftmals wurden sie zur Umerziehung sogar in Heime eingewiesen – wirkliche Hilfe für die traumatisierten Opfer wurde hingegen zumeist nicht geleistet. Zwischen 1950 und 1970, so Matter, habe sich dann ein schleichender Wandel vollzogen: „Es wurden vermehrt psychiatrische Gutachten eingeholt, die das seelische Leiden der Kinder in den Vordergrund rückten“. Doch eine wirklich breite kritische Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Kinder setzte erst in den 1970er und 1980er Jahren ein.

Die "Sex Crime Panic" in den USA

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Kinder als Opfer sexueller Gewalt nur scheinbar geschützt wurden, ist die "Sex Crime Panic" in den USA in den 1950er Jahren, über die Tagungsleiter Dr. Michael Mayer referierte. Nach der sogenannten "Horror Week", bei der im November 1949 innerhalb weniger Tage drei Kinder sexuell missbraucht und ermordet wurden, führte ein Aufschrei in den Medien dazu, das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Doch auch diese "Sex Crime Panic" hatte nur vordergründig den Schutz der Kinder zum Ziel. Tatsächlich wurde diese Panikwelle laut Mayer dazu benutzt, der sich verändernden amerikanischen Gesellschaft Orientierung zu geben und soziale Normen neu zu definieren: Erstens sollten Frauen an ihre traditionelle Rolle als ergebene Ehefrau und aufopferungsvolle Mutter erinnert werden – denn gerade scheinbar dominante oder berufstätige Mütter wurden als verantwortlich dafür angesehen, dass Kinder sich zu Sexualstraftätern entwickelten oder durch scheinbare mütterliche Vernachlässigung zu Opfern von Sexualverbrechen wurden. Zweitens sollte Männlichkeit nach einer Phase verschwimmender Grenzen zwischen den Geschlechtern wieder deutlich definiert werden, was zu einer Verfolgung Homosexueller führte, die als angebliche "Kinderschänder" diffamiert wurden. Und drittens sollte festgelegt werden, welche Formen von Sexualität als normal, welche dagegen als abweichend gelten sollten. Die "Sex Crime Panic" hatte also zur Folge, dass sich die Polizei vermehrt auf Razzien gegen Homosexuelle und Exhibitionisten konzentrierte und die eigentliche Tätergruppe, die vor allem in den Familien anzusiedeln ist, in den Hintergrund geriet.

All diese Beispiele zeigen, dass das Fortschrittsparadigma nur bedingt hilfreich ist, zeitliche Entwicklungen im Umgang mit Gewalt gegen Kinder zu erklären. Es ist nicht lange her, dass auch in westlichen Industrienationen sexueller Missbrauch instrumentalisiert wurde und das Wohl der Opfer in den Hintergrund geriet. Es ist also Vorsicht angebracht, wenn sich die Stammtische zum scheinbaren Wohl der Kinder empören. Erst mit Ende des 20. Jahrhunderts griffen substantielle Verbesserungen zum Kinderschutz. Und wir sind noch lange nicht am Ende angelangt...


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