Grenzenlose (Un-)Sicherheit

Mitglieder der Polizeigewerkschaft diskutieren mit Experten über die Globalisierung von Kriminalität und Terror

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 18.11.2015

Von: Sebastian Haas

# Bayern, Naher und Mittlerer Osten, Globalisierung, Populismus und Extremismus, Migration

Download: Grenzenlose (Un-)Sicherheit - Die Globalisierung von Kriminalität und Terror

Die grausame Realität hat die politische Bildung eingeholt: überschattet von den Terroranschlägen von Beirut und Paris mit insgesamt mehr als 170 Toten fand unsere Tagung „Grenzenlose (Un-)Sicherheit – Die Globalisierung von Kriminalität und Terror“ in Zusammenarbeit mit dem Landesverband Bayern der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) statt. Neben den Gefahren des internationalen Terrorismus analysierten die Experten auf dem Podium den Cyberraum und die Situation an den Grenzen Deutschlands und Europas.

Grenzenloser Terrorismus

Den Auftakt unserer Tagung bildeten Panels zu Ursachen und Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus sowie zum Gefährdungspotenzial durch den sogenannten Islamischen Staat (IS). „Ohne den Bürgerkrieg in Syrien – der nichts anderes ist als ein Stellvertreterkrieg verschiedenster Akteure – wäre der IS nicht das, was er heute ist“, erläuterte Christine Straßmaier, die ein deutsches Industrieunternehmen in strategischen und operativen Sicherheitsfragen berät und Mitglied des Forschungsverbunds MEIA Research ist. Der IS gründete sich 2006 im Irak und griff verstärkt nach Syrien über, als dort der Machthaber Assad seine zumeist von Islamisten bevölkerten Gefängnisse öffnen ließ, um der oppositionellen Freien Syrischen Armee einen weiteren Gegner im inneren Konflikt entgegenzustellen.

Seit 2013 breitete sich der IS wieder zurück in den Irak aus und baute dort und in Syrien in großen Gebieten eine funktionierende Organisation auf – bestehend aus Kabinett, Ministerien, Geheimdienst, Provinzgouverneuren (oft unterstützt durch Schattenmänner aus der Ära Saddam Husseins) sowie funktionierenden Ämtern und einer effektiven Rekrutierungs- und Propagandamaschinerie. Dazu kommen inzwischen Ableger in Nordafrika, auf der arabischen Halbinsel, in Nigeria, der Türkei, Afghanistan und Pakistan sowie Sympathisanten vor allem in Australien, Belgien und Frankreich. Vor diesem Hintergrund bezeichnete Christine Straßmaier den bei der Syrien-Konferenz in Wien verabschiedeten Friedens-Fahrplan als illusorisch: „Wenn man sich dieses Positionspapier anschaut, muss man sich fragen, ob die Beteiligten überhaupt miteinander gesprochen haben.“

Sichere Grenzen

Dass schwere Anschläge in Deutschland bisher durch eine Mischung aus Können und Glück verhindert werden konnten, betonte der bayerische Landesvorsitzende der DPolG, Hermann Benker. Um seiner Schutzpflicht nachkommen zu können, muss der Staat angemessene und grundrechtskonforme Sicherheitskonzepte entwickeln. Dazu gehört grundlegend, die Grenzen zu kontrollieren. „Ein Staat, der dies nicht tut, nimmt seine Verantwortung gegenüber den Bürgern nicht wahr“, erklärte Benkert – wies aber reflexartige Forderungen nach geschlossenen Grenzen deutlich zurück.

„Das wird zur Daueraufgabe“. Dr. Martin Kuhlmann, Bundespolizeidirektion München, zur Migration nach Deutschland.

Detaillierte Informationen zu Schleuserkriminalität und aktuellen Migrationsströmen lieferte Dr. Martin Kuhlmann, Vizepräsident der Bundespolizeidirektion München. Er erläuterte beispielsweise, dass die meisten Migranten die sogenannte Balkanroute von Griechenland nach Deutschland in fünf Tagen absolvieren – weil inzwischen ein gut organisiertes Weiterleitungssystem etabliert ist. Kommen die Migranten dann in Deutschland an und sprechen nur einmal das Wort Asyl aus, müssen sie zunächst ins Land gelassen und registriert werden. So geht die Bundespolizei für die Monate September bis November 2015 von je 200.000 Einreisen aus. „Die Notlage wird zunehmend zur Daueraufgabe“, meinte Kuhlmann, und warf damit die Frage nach dem Umgang mit und der Integration von voraussichtlich mehreren Millionen Migranten hierzulande auf.

Auf ähnlicher inhaltlicher Ebene bewegte sich die Diskussion „Neue Schlagbäume statt Schengen?“, bei der neben Hermann Benker noch Manfred Ländner (Polizeipolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion) und Katharina Schulze (Innenpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion) das Podium besetzten. Einig waren sich alle darüber, dass mit der Freizügigkeit innerhalb der EU derzeit ein europäisches Identifikationsprojekt in Frage gestellt wird, dass die Politik die Zuständigkeiten der verschiedenen Akteure – (Bundes-)Polizei, Kommunen, Ehrenamtliche, Verwaltungen – genau definieren muss, dass sich das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit niemals zur Zufriedenheit aller auflösen lässt und dass nur europäische Lösungen wirklich tragfähig sind. Engagiert arbeiteten sich die Podiumsteilnehmer an Aspekten der Migration wie Fluchtursachen und Integration, Einwanderungsgesetz und Verteilungsfragen, Wohnungsnot und Kriminalität ab. Restlos überzeugende Antworten wurden bei der Komplexität der Thematik kaum gefunden. Womöglich gibt es sie auch nicht.

Ausgrenzung im eigenen Land

Dass gerade das Umland von Paris gesellschaftlich sehr fragmentiert ist, erläuterte Professor Georg Glasze von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der Kulturgeograph zeigte, dass sie Situation in den banlieues bis in die 1990er-Jahre als rein städtebauliche Krise interpretiert wurde. Die Politik entwickelte Förderprogramme – und stigmatisierte die banlieues genau dadurch als staatlich definierte Problemzonen mit einem Sicherheitsproblem. Seit den Unruhen des Jahres 2005 dominieren religiöse und ethnische Aspekte die Diskussion um die Vororte. Eines aber ist seit Jahren gleich, wie Glasze betont: „Immer ist es das Problem der anderen, nie der gesamten Gesellschaft.“ Solange sich das nicht ändere, solange der strukturell benachteiligten Bevölkerung der banlieues nicht Perspektiven und Anerkennung geboten würden, könne auch fundamentalistischer Terror leicht mitten im eigenen Land entstehen.

Grenzenloses Internet

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Tagung war die Rolle des World Wide Web bei der Begünstigung von Straftaten. Stefan Wagner vom Bayerischen Landeskriminalamt erklärte, dass keine Nation so sehr durch Cyberkriminalität aus dem sogenannten dark-net (oder: TOR-Netzwerk) geschädigt werde wie Deutschland: der Schaden beträgt 40 Milliarden Euro pro Jahr. Getäuscht werden kann jedermann, beispielsweise durch Onlineshops, die kassieren, aber nicht liefern. 1,3 Millionen Euro in drei Jahren erwirtschaftete ein Krimineller auf diese Weise. Gefasst werden konnte er, nachdem 416 E-Mail-Konten überwacht, 29 Hausdurchsuchungen durchgeführt und neun Personen festgenommen wurden. 170 Polizeibeamte waren beteiligt – ein enormer Aufwand. Ebenso werden Industrie, Banken oder staatliche Institutionen (man denke an den Angriff auf das Parlakom-Netz des Bundestages) ausspioniert. Ein erster Schritt dahin ist manchmal schon eine gefälschte Online-Bewerbung, die im Chefsekretariat geöffnet wird.

Fanatisierung durch das Internet – diesem Thema widmet sich Andy Neumann auf dem Podium der Akademie und hauptberuflich. Für das Bayerische Landeskriminalamt analysiert er links- wie rechtsextreme sowie jihadistische Inhalte im Netz und zog das Fazit: Fanatismus ist schwer prognostizierbar, vor allem online – „und das ist für die Polizei ein Albtraum“. Ein gesteigertes Engagement der Sicherheitsbehörden in den Sozialen Medien fordert Neumann nicht nur in Bezug auf die Verhinderung von Straftaten, sondern auch bei der eigenen Öffentlichkeitsarbeit. „Was die Polizei tut, ist doch per se interessant.“

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Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing


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