Hat der Föderalismus eine Zukunft?

Perspektiven für den Bundesstaat

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 20.10.2013

Von: Sebastian Haas

# Verfassungsfragen, Föderalismus

Kirchhof Weidenbach Kirchgässner

Die Föderalismus-Experten (v.l.) Prof. Dr. Gregor Kirchhof (Universität Augsburg), Heidi Weidenbach-Mattar (Ständige Vertreterin des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz) und Prof. Dr. Gebhard Kirchgässner (Universität St. Gallen. Alle Fotos/Collagen: Haas).

Das Prinzip der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern gehört zum politischen System der Bundesrepublik und ist in den Köpfen der Menschen verankert. Die Föderalismusreformen, das Ringen um Länderfinanzausgleich und Bildungssystem, die Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene zeigen jedoch, dass selbst ein so grundsätzliches Strukturprinzip regelmäßig der Debatte und Überarbeitung bedarf.

In der Akademie für Politische Bildung haben wir den wissenschaftlichen Meinungsaustausch zum Thema „Föderalismus in Deutschland. Perspektiven für den Bundesstaat“ vom 18. bis 20. Oktober 2013 geführt. Dabei bemerken die Bürger meist nur die stark vereinfachte Diskussion über mangelnde Kooperation – zum Beispiel im Bildungswesen, bei der Energiewende oder bei der inneren Sicherheit. „Föderalismus kann Leben kosten“ hatte die Süddeutsche Zeitung daher auch im Zusammenhang mit den NSU-Morden getitelt, und so betonte Akademie-Direktorin Prof. Dr. Ursula Münch bei ihrer Einführung zum Thema leicht ironisch: „Es braucht wohl sehr viel Mut, um sich mit dem Thema Föderalismus zu beschäftigen.“ Nehmen Sie nun also all ihren Mut zusammen…

Aus erster Hand informierte Heidi Weidenbach-Mattar über den aktuellen Stand der Bildungspolitik. Weidenbach-Mattar ist Ständige Vertreterin des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz (KMK) und zeigte mit ihren Ausführungen: sie ist bekennende Anhängerin der föderal organisierten Bildung. Sie kenne keine Belege dafür, dass Zentralisierung das Wissen optimiere; die KMK arbeite nicht langsam, sondern gründlich, demokratisch und wissenschaftlich fundiert; Schulen in zentralisierten Systemen könnten kaum mehr Freiheiten für sich beanspruchen. „Die Vielfalt in der Einheit ist doch entscheidend für die kulturelle und soziale Prägung der Länder und der gesamten Bundesrepublik“, sagte Weidenbach-Mattar und wies auf die Ergebnisse des aktuellen Schulvergleichstests hin, nach denen die meisten Schüler die Standards für einen Abschluss bereits ein Jahr zuvor erfüllten – die Medienlandschaft interpretiere die Ergebnisse dennoch gerne anders.

Die Angst vor dem Föderalismus

Der Ökonom Professor Gebhard Kirchgässner von der Universität St. Gallen beschrieb die föderale Finanzverfassung als den Kern aller Fragen. Anhand der Problematik der Staatsschulden bemerkte er: Deutschland hat Angst vor dem Föderalismus. Wie sei es sonst zu erklären, dass immer wieder der Ruf nach dem Zusammenlegen von Bundesländern ertöne? Dass der Finanzausgleich unentwegt kritisiert, aber nicht abgeschafft werde? Dass die Bundesländer keine Steuerhoheit erlangten? Diese finanzielle Verantwortungslosigkeit der Länder sei „nicht ernst zu nehmen“.

Ähnlich argumentierte der Augsburger Verfassungsrechtler Prof. Gregor Kirchhof: die deutsche Schuldenpolitik widerspreche dem Grundgesetz und Europäischen Normen – trotz der mittlerweile beschlossenen Schuldenbremse – weil gleichzeitig das Budgetrecht der Bundesländer zu stark eingeschränkt sei. Die Steuergesetze verabschiede alleine der Bund, ein Großteil der Länderausgaben beschränkt sich aber auf die Verwaltung eben dieser Gesetze. Hinzu komme, dass vom Länderfinanzausgleich (dessen größter Faktor übrigens der Lastenausgleich über die Umsatzsteuer ist) vor allem die Finanzkraft der Stadtstaaten profitiere. Warum sollte also das Saarland zusätzliche Steuerfahnder einstellen, wenn die Mehreinnahmen dann einkassiert werden und nur die Personalkosten für die Ermittler bleiben? Warum zahlen die Bayern für ihre Kinderbetreuung, Berliner aber nicht? Fragen über die Gerechtigkeit, die im Grunde mit dem föderalen deutschen Steuer- und Finanzsystem zusammenhängen, werden wohl noch lange gestellt werden.

Zukunft der Finanzen, Neuordnung der Aufgabenverteilung, Neugliederung der Bundesländer – das föderale System steht vor enormen Herausforderungen, die ein Podium aus vier Experten nochmals einordnete. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier machte sich dabei besonders für eine neue Zusammensetzung der deutschen Bundesländer stark. Sie sei Voraussetzung dafür, dass alle Länder eine mögliche Rückübertragung von Kompetenzen überhaupt nutzen könnten; die im Grundgesetz geforderte Eigenstaatlichkeit sei heute in einigen Fällen nicht gegeben.

„Den Bürgern ist's egal“

Dass eine neue Föderalismuskommission kommen muss, darüber waren sich die Experten in der Akademie für Politische Bildung Tutzing einig. Doch auch wenn in ihr „ein enormer Handlungsdruck herrscht“, wie Volker Ratzmann aus der Baden-Württembergischen Landesvertretung beim Bund meint, so erwartet zum Beispiel der der Politikwissenschaftler Roland Sturm darin ein langwieriges Kompetenzgerangel. Der Lehrstuhlinhaber an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gibt außerdem zu bedenken: „Die Bürger sind an einer solchen Kommission nicht interessiert.“

...oder doch nicht?

Für den internationalen Vergleich „EU, Staat, Region: Wer sind die Verlierer?“ blickten die Referenten über die Grenzen Deutschlands hinaus. Renate Reiter von der FernUniversität Hagen erläuterte, dass die französischen Regionen in den vergangenen Jahren eine enorme Aufwertung erfahren haben in Bezug auf Wirtschaftsförderung, Infrastrukturplanung und den Bau von Schulen. Allerdings sei der französische Zentralismus weiter unangefochten: die Regionen seien weiter von Schlüsselzuweisungen des Staates abhängig; Ämterhäufung, mangelnde Transparenz, Behördenwirrwarr sorgten für einen Verlust an Effektivität; zudem beteiligen sich kaum mehr als 40 Prozent der Einwohner an den Regionalwahlen. Mario Kölling vom Centro de Estudios Politicos y Constitucionales in Madrid erklärte, dass in Spanien durch die Finanz- und Wirtschaftskrise die Zentralisierung gestärkt wurde, doch der Wunsch der Bevölkerung nach mehr Autonomie – oder gar Unabhängigkeit – der Regionen zunehme. Elisabeth Almer von der Europäischen Akademie Bozen beschrieb eine ähnliche Entwicklung in Italien, gefördert durch die Reformunfähigkeit des Zentralstaates, die Politikverdrossenheit der Bevölkerung und die Tradition der Kirchturmpolitik.

Kurz: Die Krise beschleunigt einerseits die Europäische Integration, bildet aber auch eine europäische Öffentlichkeit, die ihre Identität meist aus der eigenen Region bezieht. Kein Wunder also, dass die deutschen Bundesländer in Brüssel offensiv auftreten - was die Leiterin der Bayerischen Vertretung in Brüssel, Angelika Schlunk, erläuterte. Denn für Länder wie Landesbewohner gibt es in der EU mehr als genug Partizipationsmöglichkeiten: vom Bürgerbegehren über regionale Zusammenschlüsse bis zur Stimmabgabe bei der Europawahl.


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