Flexibel bis zum Ende?

Entgrenzungen in der Arbeitswelt

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 02.04.2012

Von: Sebastian Haas

# Gesellschaftlicher Wandel, Sozialstaat

Download: Flexibilität als Norm - Entgrenzungen in der Arbeitswelt

Münch-Haderthauer-Kellermann-Tutzing

Sie luden Christine Haderthauer in die Akademie für Politische Bildung Tutzing ein: Direktorin Prof. Dr. Ursula Münch, die auch in die Tagung einführte, und Tagungsleiter Dr. Gero Kellermann. (Foto: Haas)

Flexibel, wann man arbeitet, flexibel, wo man arbeitet, flexibel, was man arbeitet. Welche Chancen bietet die zeitlich, räumlich und inhaltlich entgrenzte Berufswelt für ein erfülltes Arbeitsleben? Zu welchen gesellschaftlichen Veränderungen führt sie? Was, wenn man ihre Anforderungen nicht erfüllt? Bei unserer Tagung „Entgrenzungen in der Arbeitswelt“ diskutierten Volkswirte, Soziologen und Arbeitsrechtler mit Politikern, Berufsberatern und Betriebsräten. Die Tagung eröffnete Christine Haderthauer (CSU), die Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen – ein Bericht mit Fokus auf die aktive Politik.

Viele kennen Christine Haderthauer noch als Lautsprecherin der CSU, die sie 2007/8 als Generalsekretärin ihrer Partei war, oder haben ihr Double vom Nockherberg vor Augen. Was die wenigsten wissen: Die bayerische Ministerin ist vom Fach, gründete eine eigene Kanzlei für Arbeitsrecht und setzt sich seit Jahren vehement für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein. An die Akademie für Politische Bildung kam Christine Haderthauer „mit großer Vorfreude auf Grundsatzdiskussionen“.

Grundsätzlich begann auch ihr Vortrag in Tutzing: Die Verschmelzung von Berufs- und Privatleben ist nichts Neues. Die Regelung von Arbeitszeiten, Urlaub, Arbeitsunfähigkeit oder Versicherungen besteht schließlich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist schon wieder ein Auslaufmodell. „Tarifliche 38-Stunden-Wochen, lebenslange Anstellungen bei einem Arbeitgeber und ein Gehalt, das zum Lebensunterhalt für eine ganze Familie reicht – der Erwartungshorizont unserer Eltern gilt heute nicht mehr“, meint Haderthauer.

Wer setzt sich selbst noch Grenzen?

Der Arbeitsmarkt sei entgrenzt von vielen Seiten. Erstens die Entgrenzung durch die Emanzipation: Die erwerbstätige Frau von heute arbeitet in Teilzeit oder Minijob. Das sind lediglich Zusatzverdienste, die niemanden ernähren können. Zweitens die Entgrenzung durch den Verbraucher: Jederzeit shoppen können bedeutet Arbeit auch an Wochenenden – mehr konsumiert wird dadurch aber nicht. Drittens die Entgrenzung durch Globalisierung: Dank Smartphones sind wir immer und überall erreichbar, halten Telefonkonferenzen mit der ganzen Welt, dank Zeitverschiebung auch spät am Abend. Christine Haderthauer sieht gefährliche Konsequenzen: „Im heutigen Arbeitsschutz geht es nicht mehr um abgeschnittene Finger, sondern um psychische Belastungen, weil die Menschen ihre Grenzen nicht mehr selbst setzen können. Flexibel arbeiten muss nicht immer mehr arbeiten bedeuten.“

Damit hören die Entgrenzungen nicht auf. Wo ist die Grenze zwischen Privatleben und Beruf? Was, wenn das Wissen an seine Grenzen stößt und eine Weiterbildung notwendig ist? Wo liegt die Grenze für das Anbieten von Zeitarbeit? Bereits vor der Tagung hatte sich Christine Haderthauer für die Akademie für Politische Bildung dazu geäußert: „Flexibilität ist in der modernen Lebens- und Arbeitswelt von zentraler Bedeutung. Sie kann be- und entlasten, arbeitgeber- oder arbeitnehmerorientiert sein. Entscheidend ist die richtige, qualitativ hochwertige Flexibilität – gerade auch für Familien. Mein erklärtes Ziel ist nicht die arbeitsgerechte Familie, sondern die familiengerechte Arbeitswelt.“

Schluss mit der German Angst

Da verwundert es nicht, wenn die Lösungsansätze der Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vor allem in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegen – aber auch im Mut zum Risiko. „Wir haben die beste soziale Absicherung weltweit, aber die meiste Angst vor Arbeitslosigkeit“, meint Christine Haderthauer. Sie empfiehlt „modulares Denken“. Wenn zum Beispiel das Wissen aus der Ausbildung überholt sei, was spräche gegen Ausstieg aus dem Beruf, Weiterbildung, Kindererziehung und dem Wiedereinstieg? Das sei allemal besser als aus der Familie eine „Relais-Station für Handlungsreisende“ zu machen.

Zurück in die zweite Reihe

Auch der feste Renteneintritt mit bald 67 Jahren ist nach Ansicht der Arbeitsministerin schon jetzt überholt. Ihr schwebt ein Zeitkanal vor, in dem man bis zu acht Jahre früher oder später aus dem Beruf scheiden kann. Damit die Alten aber nicht die Arbeitsplätze der Jungen blockieren, kommt sogleich ihr Appell: „Muss ich denn, je älter ich werde, immer mehr verdienen und immer weiter aufsteigen? Auch als Seniorpartner in der zweiten Reihe kann ich noch viel Gutes leisten.“

Christine Haderthauer hat viele Ideen und macht viele Vorschläge – hinterlässt aber auch offene Fragen. Verübeln kann man das der Arbeitsministerin nicht. Denn die Grenzen der Arbeitswelt verschieben sich ständig weiter. Wie sich diese Entgrenzung politisch gestalten lässt, versuchten bei einer Podiumsdiskussion zu beantworten: die Landtagsabgeordneten Peter Bauer (Freie Wähler), Brigitte Meyer (FDP), Joachim Unterländer (CSU) und Angelika Weikert (SPD) sowie der Bundestags-Abgeordnete Thomas Gambke von Bündnis 90/Die Grünen.

Leiharbeit und Zeitarbeit: die Geißeln der modernen Arbeitswelt?

Brigitte Meyer ist Vorsitzende des Landtags-Ausschusses für Soziales, Familie und Arbeit. Trotz Globalisierung sieht sie für die Landespolitik genügend Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklungen in der Arbeitswelt. Wer für die verschiedenen Lebensentwürfe der Menschen offen sei, könne in der Politik den Rahmen bestimmen, in dem Ganztagesbetreuung für Kinder, Elternzeit für Väter, flexible Arbeitszeiten, Betriebskindergärten oder die Eingliederung Behinderter realisiert werden können. „Familienfreundlichkeit gewinnt Arbeitskräfte, das müssen wir der Wirtschaft klar machen“, meint die Liberale Meyer – und erhält dabei Zustimmung von Joachim Unterländer, der dem Landtags-Arbeitskreis Soziales, Familie und Arbeit der CSU vorsitzt. Zwei Aspekte der Entgrenzung sieht Unterländer als besonders wichtig an: Erstens müsse soziale Arbeit wie Kindererziehung oder Pflege zuhause endlich einen höheren Stellenwert erhalten. Zweitens fordert er für die Politik Instrumente zur Eindämmung von Leiharbeit ein. Diese dürfe nur bei Auftragsspitzen eingesetzt werden, nicht aber zur Kostensenkung in Betrieben – da stimmten alle Gäste auf dem Podium überein.

Leih-, Zeit-, Teilzeit- und prekäre Arbeitsverhältnisse – den monetären Druck auf die Arbeitnehmer hält Peter Bauer für nicht gerechtfertigt. „Wer Angehörige pflegt und seinen Beruf hintanstellt, wird später mit Altersarmut bestraft“, meint der Sprecher für Arbeit und Soziales der Landtagsfraktion der Freien Wähler. Den psychischen Druck auf die Arbeitskräfte (im Jahr 2010 schieden in Deutschland 70.000 Personen deswegen vorzeitig aus ihrem Beruf aus) von Seiten der Politik zu lindern, hält Bauer für unmöglich. Ungleich wichtiger seien in diesem Zusammenhang zum Beispiel Betriebsärzte – oder einfach die gute alte Ratschpause.

„Papa gehört samstags mir?“

Doch in Zeiten flexibler Zeitkonten gebe es keine Zeit mehr für Reflexion und Dialog, merkte Thomas Gambke an. Gambke ist für die Grünen Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Mit Lebensqualität hängt für Gambke auch zusammen, mal ein ruhiges Wochenende zu genießen. Doch die Steuerfreiheit für Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge haben dafür gesorgt, dass mittlerweile 28 Prozent der in Deutschland Beschäftigten zu diesen Zeiten arbeiten. „Da stimmt doch was nicht“, meint der Bundestags-Abgeordnete und spielt damit auch auf die Prämien von mehr als 7.000 Euro an, die gerade ein Autobauer seinen Mitarbeitern gezahlt hat. Leer ausgegangen ist dabei die große Masse an Zeitarbeitern, die dieselbe Arbeit verrichtet. Wer oder was kann da noch helfen? Diese Frage beantwortet Angelika Weikert – für die Landtags-SPD im Ausschuss für Soziales, Familie und Arbeit – so: Gewerkschaften („die können die Arbeitswelt humaner machen“) und Mindestlöhne („ein Unternehmen, das mit Gehältern unter sieben Euro kalkuliert, kann so oder so kein Zukunftsmodell haben“).


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