Online wird die analoge Welt nicht gerettet

Digitalisierung der Politik – Politisierung des Digitalen

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.07.2012

Von: Carolin Dameris und Michael Schröder

# Gesellschaftlicher Wandel, Medien, Digitalisierung

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Zum medienpolitischen Meinungsaustausch kamen auf dem Podium der Akademie für Politische Bildung Tutzing zusammen: (v.l.) Eberhard Sinner, medienpolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion; Annette Mühlberg, Referatsleiterin eGovernment bei ver.di; Dr. Peter Tauber (CDU), Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Internet und digitale Gesellschaft“.

WikiLeaks, GuttenPlag Wiki, die Piraten: die digitale Welt greift zunehmend auf die Politik über. Kaum noch ein Politiker, der nicht twittert oder Fans bei Facebook sammelt. All dies bringt radikale Veränderungen mit sich: für die politische Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft, die Parteien, die Beteiligung am politischen Prozess und den Journalismus.

Sich über die Risiken des Internets im Klaren sein – das war ein entscheidender Aspekt der dreitägigen Veranstaltung. Unumstritten war, dass das Netz viele Vorteile bietet. Doch was analog nicht funktioniert, wird nicht plötzlich online funktionieren.

Prof. Christoph Bieber (Universität Duisburg-Essen) führte in die Problemfelder der Digitalisierung der Politik ein. (Seinen und andere Vorträge können sie hier herunterladen.) Besonders das Programmieren spiele eine entscheidende Rolle, urteilte Bieber, da hier Macht entstehe, die politische Entscheidungsprozesse beeinflusse. So ist laut Bieber das personalisierte Internet kritisch zu sehen: Mit Algorithmen werden die Bewegungen des Internetnutzers erfasst und künftige Suchen darauf abgestimmt. Google zeige, bei gleicher Eingabe, für jeden Nutzer andere Suchergebnisse.

Mehr Internet = Mehr Demokratie?

Kann Internet die Demokratie verbessern, begünstigen oder gar bedingen? Prof. Karsten Weber von der TU Cottbus erklärte, dass Demokratie mit einfachen Mitteln realisiert werden könne – unabhängig vom Netz. Natürlich erreiche man durch das Internet eine breite Öffentlichkeit, dies fördere aber nicht automatisch die Partizipation. Außerdem müsse man sich – analog wie online – mit denselben komplexen Themen auseinandersetzen.

Weber warnte vor einer negativen Beziehung zwischen Internet und Demokratie. Auch Hasspredigern und Extremisten biete das Internet eine Plattform. Darüber hinaus verletzen Shitstorms die Privatsphäre. Deswegen sei ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Internet wichtig. Die Wirkung für die Demokratie sollte nicht überschätzt werden: „Revolutionen werden nicht von neuen Medien gemacht, sondern von Menschen“, schloss Weber.

Welche Informationen gelangen an die Öffentlichkeit? Jahrzehntelang war dies Aufgabe der Journalisten. Mit Facebook, Twitter und Co. kann mittlerweile jeder Informationen weitergeben. Haben die Journalisten als Schleusenwärter ausgedient? Nein, meinte Prof. Wolfgang Donsbach von der TU Dresden. „Das Internet ist wie eine Kneipe, die es dem Journalisten erlaubt, die Stimme des Volkes zu hören“, erklärte er. Herauszuhören was valide und wichtig ist – das sei der Rohstoff des professionellen Journalismus. Das Internet als Informationsquelle stehe zurzeit mit 34 Prozent an letzter Stelle, nach Radio (35), Zeitung (47) und Fernsehen (74). In den USA hingegen hat sich das Internet als Informationsquelle bereits etabliert. „Das wird uns in fünf Jahren erreichen“, schätzte Donsbach die Entwicklung ein.

Vom Schleusenwärter zum Mitspieler: Journalismus 2.0

Sascha Borowski, Leiter der Online-Redaktion der Augsburger Allgemeinen, hat den Wandel selbst miterlebt: „1994 gab es keine Konkurrenz, wir waren der Platzhirsch in der Region.“ Inzwischen sei die Augsburger Allgemeine ein Spieler unter vielen. Die Feuerwehr twittert ihre Einsätze, der Bürgermeister kommuniziert über Facebook mit seiner Gemeinde: viele Akteure seien nicht mehr auf die Presse angewiesen. „Man muss als Journalist bereit sein, neue Quellen zu nutzen“, befand Borowski. Denn mit der neuen Informationsvielfalt gewinne der professionelle Journalismus zusätzlich an Bedeutung: Sichten, einordnen, gewichten, kommentieren – all das müsse geleistet werden. Und Schnelligkeit muss mit Qualität einhergehen.

Demokratie und Parteienstaat im digitalen Zeitalter

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die politische Kommunikation aus? Welche Auswirkungen ergeben sich für die Parteien und die Politiker? Darüber diskutierten der Bundestagsabgeordnete Dr. Peter Tauber (CDU); der Landtagsabgeordnete Eberhard Sinner (CSU) und Annette Mühlberg, Referatsleiterin für eGovernment bei ver.di. „Der Laptop ist der Schulranzen der Zukunft“, sagte Sinner voraus. Man müsse als Politiker das Internet benutzen, sonst erreiche man vor allem die jungen Leute nicht. Die Macht der Medien begreifen, sei die eigentliche Medienkompetenz, die es zu vermitteln gelte. „Ich will das Gerät beherrschen und nicht beherrscht werden“, befand Sinner.

„Wird alles dafür getan, um die wahrzunehmen, die sich nicht online artikulieren?“ Diese Frage rückte Mühlberg ins Zentrum. Das Netz sollte keine bestehenden Kommunikationsstrukturen ersetzen, sondern sie ergänzen. Neue Formen der Diskussion und des Miteinanders würden geschaffen – der Umgang mit ihnen sei aber noch zu lernen. „Das Netz liest dich“, kritisierte Mühlberg. Die Politik müsse Facebook stärker in die gesetzlichen Schranken weisen, um die Nutzer zu schützen. Eine solche Gesetzgebung könne nach Meinung von Eberhard Sinner nur auf europäischer Ebene effektiv und sinnvoll stattfinden. Die Risiken von Facebook müsse jeder selber abwägen, erklärte Peter Tauber. Zurzeit überwiege bei den meisten Nutzern der Mehrwert.

Manfred Broy ist Informatikprofessor an der TU München und deshalb mit dem Programmieren bestens vertraut. Er zeigte an zahlreichen Beispielen aus der Medizin, Telekommunikation sowie dem Automobil- und Flugzeugbau, wie die digitale Revolution in den letzten 50 Jahren unsere Welt und unser Leben verändert hat und weiter verändern wird. Zukünftig werden direkte Verbindungen zwischen der physikalischen Umwelt und den immer kleiner werdenden Rechnern und Prozessoren hergestellt.

Autonome Technik - und Auto mit Internetadresse

„Das Wort wird zur Tat. Die technischen Systeme erfassen autonom. Aber wo bleibt die Autonomie des Menschen?“ fragte Broy kritisch. Die Grenzen der zukünftigen Entwicklungen seien nicht technischer Natur, sondern lägen nur in der Phantasie der Ingenieure.

Nach dem interaktiven Web 2.0 sieht der Informatiker das semantische Web kommen. Kameras werden Abgebildete identifizieren und ihrem Profil im Netz zuordnen können: „Ich fotografiere Sie und weiß kurz danach alles, was im Netz über Sie an Daten und Informationen verfügbar ist.“ In zehn Jahren werden technische Geräte wie Autos, Handys, Ampeln und Kühlschränke eigene Internetadressen haben. Fahrzeuge werden sich autonom steuern. Ganz neue Carsharing-Modelle mit erheblichen Konsequenzen für die Autoindustrie werden das individuelle Fahrzeug überflüssig machen. Der Automat fährt selbständig vor, wann und wo der Fahrer es will. Broy sieht eine alles durchdringende Vernetzung des Alltags, für die er allerdings auch dringend politische Steuerung und Regulierung anmahnte. Der „digitale Schatten“ dürfe nicht unberechenbar werden.

Digitale Werkzeuge der Beteiligung

Mit neuen politischen Beteiligungsmöglichkeiten durch das Internet beschäftigte sich die Berliner Bildungsforscherin Jennifer Paetsch, Gründungsmitglied und stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Liquid Democracy“. Sie ist davon überzeugt, dass der Wunsch nach mehr Beteiligung in der Bevölkerung sehr ausgeprägt ist und dass das Internet dafür gute Werkzeuge bereithält. Sie sieht eine Intensivierung der politischen Kommunikation, nicht nur, aber gerade auch in der jüngeren Generation bis 36 Jahre: „Digital Citizenship der Zukunft ist mehr als nur Zeitung lesen und Informationsbeschaffung. Es ist Vernetzung, Dialog und Austausch.“

Paetsch räumte mit einem weit verbreiteten Vorurteil auf: Liquid Democracy ist nicht die permanente Volksabstimmung über jedes Thema und die gleichzeitige Abschaffung des Parlaments. „Es ist ein Mittelding zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, ein partizipativer Meinungsbildungsprozess innerhalb einer bestimmten Gruppe oder zwischen unterschiedlichen Gruppen“, sagte Paetsch.

Es gehe um einen moderationsfreien, themenspezifischen Diskurs – z.B. bei der gemeinsamen Erarbeitung eines Textes, eines Programms oder einer Petition. Das Modell könne auch für die Themensuche und das Agenda-Setting verwendet werden. Besonders bei kommunalen Prozessen und Projekten der Jugendbeteiligung in überschaubaren Räumen sei mit Hilfe der Software Adhocracy mehr Partizipation möglich. Auch die Enquetekommission des Bundestags „Internet und digitale Gesellschaft“ arbeitet mit dem Programm und hat sich auf diese Weise den virtuellen 18. Sachverständigen ins Boot geholt. Der macht zwar nicht sehr viele Vorschläge zur Arbeit der Parlamentarier. Aber das, was auf diesem Wege ins Parlament gelangt, ist anspruchsvoll und hilfreich.


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